Jährlich kommt es zu mehr als 50.000 Verurteilungen wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, die Mehrheit steht im Zusammenhang mit Cannabis. Doch zahlreiche Rechtsexperten fordern ein Umdenken: Die Pönalisierung von Cannabis sei nicht nur überholt, sondern auch kontraproduktiv. Die Stadt Münster plant nun einen Modellversuch: 100 Teilnehmer erhalten ein Jahr lang kostenfrei Cannabis. Die Stadt erhofft sich Erkenntnisse über die Folgen des Cannabiskonsums. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Kai Ambos (Universität Göttingen) über mögliche Risiken und Chancen einer Legalisierung.
Zur Person

Professor Dr. Dr. h.c. Kai Ambos ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und internationales Strafrecht und zugleich Leiter der Abteilung für ausländisches und internationales Strafrecht an der Georg-August-Universität Göttingen. Nach dem Studium der Rechts- und Politikwissenschaften in Freiburg, Oxford und München legte Ambos seine beiden juristischen Staatsexamina in Bayern ab. Er promovierte und habilitierte in München. Seit 2006 ist Ambos Richter am Landgericht Göttingen. 2013 wurde ihm die Ehrendoktorwürde durch die Universidad Nacional de la Amazonía Peruana verliehen. Seit Februar 2017 ist Ambos Richter am Kosovo Sondertribunal (KSC).
der Freitag: Prof. Ambos, Ihrer Vorstellung nach soll die Cannabisvergabe durch das Gesundheitssystem kontrolliert werden – und ausdrücklich nicht durch die Strafverfolgungsorgane. Welche Probleme resultieren aus der derzeitigen Rechtslage?
Kai Ambos: Zunächst ist wichtig, hervorzuheben, dass es nicht um vollständige Freigabe, sondern nur um eine andere, aus unserer Sicht insgesamt wirksamere und sozial verträglichere Kontrolle des Cannabiskonsums geht. Die derzeitige Rechtslage führt zu einer Überkriminalisierung der Konsumenten und damit zu einem unverhältnismäßigen Einsatz des Strafrechts. Der Konsum von Cannabis ist – wie der Konsum jeder Droge (auch der sogenannten legalen Drogen Alkohol und Nikotin) – ein primär gesundheitliches Problem und sollte deshalb auch über das Gesundheitssystem reguliert werden.
Handelt es sich bei Cannabis-Konsumenten nicht eher um eine bloße Minderheit? Inwiefern profitiert die Gesamtbevölkerung von einer Legalisierung?
Natürlich handelt es sich bei Cannabis-Konsumenten gesamtgesellschaftlich gesehen um eine Minderheit. Die geforderte gesundheitliche, statt strafrechtliche Kontrolle trifft und begünstigt insoweit aber die gesamte Gesellschaft, als damit das Strafjustizsystem von der strafrechtlichen Verfolgung der Cannabis-Konsumenten entlastet wird, damit also Ressourcen zur Bekämpfung schwerer Kriminalität frei werden.
Wird durch die Legalisierung tatsächlich der illegale Drogenhandel abnehmen? Würden illegale Händler nicht einfach Dumping mit schlechterem Cannabis betreiben, um mit den staatlichen Vergabestellen konkurrieren zu können?
Die Frage spricht ein wichtiges Problem an. Natürlich würde durch eine Entkriminalisierung nicht von heute auf morgen der Schwarzmarkt verschwinden. Es ist auch schwer voraussehbar, wie sich die Entkriminalisierung auf den Schwarzmarkt insgesamt auswirken würde. Man kann aber schon mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass eine gesundheitlich kontrollierte Abgabe dem Schwarzmarkt einen großen Teil der Kunden nimmt und damit zu seiner Reduzierung führt. Langfristig hätte eine solche Entkriminalisierung natürlich die vollkommene Austrocknung des Schwarzmarkts zum Ziel.
Könnte eine Legalisierung von Cannabis nicht wie eine Art Dammbruch wirken und dazu führen, dass mittel- oder langfristig auch andere Drogen legalisiert würden?
Die Frage geht von einer falschen Prämisse aus, weil sie ignoriert, dass besonders gesundheitsschädliche Drogen, nämlich Alkohol und Nikotin schon lange legalisiert sind und erhebliche Kosten für unser Gesundheitssystem verursachen. Bei unserem Vorschlag geht es nur um die Entkriminalisierung von Cannabis, alles weitere wäre nach entsprechenden Erfahrungen und gründlicher Prüfung zu entscheiden. Wenn die Gesamtkosten für den Staat – Strafverfolgungskosten im Vergleich zu Gesundheits- bzw. Sozialkosten – bei einer Entkriminalisierung von Cannabis deutlich geringer sind – wovon wir ausgehen – und im Übrigen dem organisierten Verbrechen die Marktgrundlage entzogen wird, muss man sicherlich auch über eine nicht-strafrechtliche Kontrolle des Konsums anderer, bisher noch kriminalisierter Drogen nachdenken. Solche Modelle gibt es ja auch schon, etwa in Form des legalen, staatlich kontrollierten Zugangs zu Heroin.
Auf welchem Wege sollte der Vertrieb erfolgen?
Der Vertrieb müsste natürlich kontrolliert erfolgen. Das könnte etwa über Apotheken geschehen.
Ohne Mengenbeschränkung?
Die Mengen könnten sich nach den von den Strafverfolgungsbehörden auf Länderebene festgelegten geringen Mengen für den persönlichen Konsum (persönliche Dosis) richten, in NRW etwa 10 Gramm Bruttomenge.
Nach Ihrem Vorschlag bliebe die Abgabe an Minderjährige verboten. Welche Konsequenzen sollte es Ihrer Meinung nach haben, wenn Minderjährige mehrfach durch den Konsum von Cannabis auffallen?
Bei der Abgabe an Minderjährige geht es zunächst um die Sanktionierung von denjenigen, die die Droge an Minderjähre abgeben. Es geht weniger um (strafrechtliche) Konsequenzen für Minderjährige. Bei diesen sind jedenfalls eher sozialpädagogische und jugendhilferechtliche statt strafrechtliche Maßnahmen angebracht.
Wie soll verhindert werden, dass Drogenhändler Cannabis an Minderjährige abgeben? Welche Konsequenzen sollte ein solcher Verstoß für Drogenhändler haben?
Ich weiß nicht genau, was Sie unter „Drogenhändler“ verstehen. Jedenfalls muss man natürlich über Sanktionen für diejenigen nachdenken, die entgegen unseren gesetzlichen Vorstellungen Cannabis an Minderjährige abgeben. Insoweit gelten grundsätzlich die Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes.
Was glauben Sie, was die größte Hürde für die Legalisierung von Cannabis ist? Ist es die Angst vor den gesellschaftlichen Folgen?
Es gibt irrationale und begründete Ängste. Ein wichtiger und sehr ernstzunehmender Einwand ist die Gefahr von erhöhtem Konsum. Das kann man, da es sich um eine Zukunftsprognose handelt, nicht sicher vorhersagen. Deshalb sind lokale Modellversuche sehr wichtig.
In der Vergangenheit kritisierten Sie, dass es bei der gegenwärtigen politischen Konstellation schon schwierig gewesen sei, überhaupt eine Kommission zum Thema Cannabislegalisierung einzurichten. Worauf führen Sie diese Schwierigkeiten zurück?
Insgesamt besteht bei den herrschenden politischen Parteien eine irrationale, auf moralisierenden Vorstellungen beruhende Angst vor der „Legalisierung“ bisher kriminalisierter Drogen. Legalisierung ist bewusst in Anführungsstriche zu setzen, weil es in der Sache um eine Entkriminalisierung geht, also nicht um völlige Freigabe, sondern eine nicht-strafrechtliche, primär gesundheitspolitische Kontrolle. Es ist kontraproduktiv, ein primär gesundheitspolitisches, soziales Problem dem Kriminaljustizsystem zu übertragen.
Glauben Sie, dass der Staat gegenüber Minderjährigen den verantwortungsvollen Umgang mit Drogen thematisieren sollte, beispielsweise in Schulen?
Wenn das nicht im familiären Bereich – insbesondere durch die Eltern – offen thematisiert wird, sollte es im schulischen Bereich getan werden. Das kann aber immer nur ein Ersatz sein, denn die primäre Verantwortung und der primäre Zugriff liegen natürlich bei den Eltern. Insoweit geht es darum, einen offenen Umgang mit dem Drogenproblem, wie mit vielen anderen Problemen Jugendlicher und Heranwachsender, zu pflegen, statt in autoritärer Manier zu glauben, dass diese durch den Einsatz des Strafrechts gelöst werden können. Das Strafrecht wirkt hier letztendlich nur, wie übrigens in vielen Bereichen, kontraproduktiv.
Vielen Dank für das Gespräch.
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