Politische Parteien - ein Auslaufmodell?

Politik Die Mitgliederzahlen der politischen Parteien fallen zunehmend ab. Parteienforscher Prof. Dr. Oskar Niedermayer über die Ursachen und mögliche Lösungsansätze.

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Politische Parteien - ein Auslaufmodell?

Foto: Bernd Schwabe in Hannover (CC)

Herr Niedermayer, einer Ihrer jüngsten Erhebungen zufolge, verloren alle im Bundestag vertretenen Parteien sowie die FDP im Jahr 2014 an Mitgliedern. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Es gibt eine ganze Reihe an allgemeinen, aber auch partei-spezifischen Gründen hierfür.
Allgemein ist es so, dass wir einen starken ökonomischen und kulturellen Wandel erleben, der sich auf bestimmte Arten von Parteibeitritten negativ auswirkt. Zentrale Faktoren sind hier die allgemeine Abnahme gesellschaftlicher Einbindung und die Erosion der sozialen Milieus.

Inwiefern?
Es gab früher starke normative Anreize dafür, einer Partei beizutreten. So gab es eine stärkere Gruppenbindung, die einen in Richtung einer bestimmten Partei hin sozialisierte. Früher wurde beispielsweise in den Familien die Parteimitgliedschaft oft auf die nächste Generation weiter übertragen. Hinzu kommt, dass gerade die jüngeren Leute in der heutigen Zeit andere Formen der politischen Betätigung für sich entdecken: Es soll schnell gehen, es soll Erfolge zeigen, man will sich vielleicht auch nur zeitweise engagieren. In Parteien ist dies alles nur sehr schwierig zu organisieren.

Aber andererseits hat sich in der Parteienlandschaft in den letzten Jahrzehnten doch sehr viel getan.
Ja, im Parteiensystem ist einiges passiert, aber dies zeigt sich vor allem in Form einer zunehmenden Ausdifferenzierung. Wenn es einem Wähler um soziale Gerechtigkeit geht, dann ging man früher zur SPD. Heutzutage ist das weitaus differenzierter: Man kann zu den Grünen gehen, zur Links-Partei, etc. Das führt dazu, dass es für die einzelnen Parteien immer schwieriger wird, Mitglieder zu gewinnen.

Fehlender Zuwachs ist das eine, aber wie erklärt sich der Rückgang der Mitgliederzahlen?
Man darf nicht vergessen, dass die Parteien jedes Jahr allein durch Todesfälle zwischen 1,5 und 2,5 % an Mitglieder verliert, die irgendwie ausgeglichen werden müssen. Hinzu kommen partei-spezifische Entwicklungen, die zu Austritten motivieren. Ein Beispiel ist die Austrittswelle aus der SPD im Rahmen der Agenda 2010.

Ist das denn ein kontinuierlicher Abwärtstrend?
Jedes Mal, wenn eine Bundestagswahl ist, dann verbessert sich der Rückgang kurzfristig, aber nach den Wahlen setzt sich der Rückgang fort.

Inwiefern verbessert sich der Rückgang: Wird er geringer oder steigen die Mitgliedzahlen in dieser Zeit auch an?
Ja, die Parteien schaffen es in dieser Zeit auch, neue Mitglieder zu gewinnen, aber zugleich treten andere wieder aus. Man kann also nicht generell davon sprechen, dass im Rahmen von Bundestagswahlen unter dem Strich dann ein Plus hinauskommt.

Hat die Wiedervereinigung zur aktuellen Entwicklung beigetragen?
In Ostdeutschland gab es in den ersten zwei, drei Jahren einen dramatischen Rückgang an Mitgliedern. Dies ist schlicht auf die Tatsache zurückzuführen, dass es früher in der DDR materielle Vorteile gab, wenn man Mitglied in einer der zugelassenen Parteien war. Als diese Zwangspolitisierung wegfiel, sind dann scharenweise Leute aus den Parteien ausgetreten.

Zum Teil wird gesagt, dass Volksparteien ein Modell der Vergangenheit seien. Wie stehen Sie dazu?
Ich bin sehr vorsichtig mit Thesen, die vom Ende der Volksparteien sprechen: Gerade die letzten Wahlen haben ja gezeigt, dass das überhaupt nicht stimmt.
Es gibt sicherlich langfristige Entwicklungen, die dazu führen, dass die Volksparteien größere Schwierigkeiten zur Mobilisierung von Anhängern und Mitgliedern haben werden. Zudem gibt es auch kurzfristige Faktoren für das Wahlverhalten, die sich negativ für den Erfolg der Volksparteien auswirken können. Aber wenn diese Faktoren hingegen optimal sind, dann sieht das Ganze plötzlich anders aus - und das war gerade bei der Wahl 2013 der Fall. Volksparteien werden als Konzept fortbestehen, aber die goldene Ära der Mitgliederparteien ist vorbei. Man sollte nicht meinen, dass wegen irgendwelcher Parteireformen plötzlich wieder die Leute in Scharen den Parteien beitreten würden, so wie zum Beispiel in den 1970er Jahren. Diese Zeit ist vorbei.


Worauf führen Sie das zurück?
Eine unüberschaubare Vielzahl an Faktoren. Das Entscheidende ist, dass die Parteien nur gewisse dieser Faktoren beeinflussen können.


Was können die Parteien denn unternehmen, um wieder Mitgliedern zu gewinnen?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um entsprechende Anreize zu schaffen.

Eine Rolle spielen affektive Anreize, wenn zum Beispiel die Wähler einer Partei beitreten, weil sie über eine besonders charismatische Führungspersönlichkeit verfügt. Eine solche Persönlichkeit sehe ich im Moment allerdings nicht. Als Beispiel aus vergangener Zeit kann man Willy Brandt nennen.
Zudem gibt es normative Anreize, d.h. Verhaltenserwartungen aus der Umwelt, der Familie und anderen Gruppen. Auf dieser Ebene können die Parteien nichts machen.
Politisch-instrumentelle Anreize liegen vor, wenn Leute aufgrund bestimmter politischer Ziele Parteien beitreten. Auf dieser Ebene kann man ansetzen, indem man beispielsweise die Unterschiede der eigenen Partei gegenüber den anderen Parteien deutlicher hervorhebt: „Wenn ihr dies und das verwirklichen wollt, dann müsst ihr zu uns kommen!“ Aber gerade für die großen Parteien ist dies besonders schwer, weil sie ganz unterschiedliche Interessen und Mitglieder umfassen und integrieren müssen, um groß zu bleiben. So etwas können kleine Parteien machen.
Dann gibt es materielle Anreize, die von dem Wahlerfolg der Partei abhängen, sowie wertbestimmte Anreize, die an bestimmte Wertvorstellungen anknüpfen, wie zum Beispiel soziale Gerechtigkeit, Freiheit, etc.
Alles in allem ist festzustellen, dass die Möglichkeiten der Parteien, diese verschiedenen Anreize zu beeinflussen, sehr stark begrenzt sind.

Aber welche Alternativen verbleiben den Parteien dann überhaupt noch?
Die Parteien versuchen im Wesentlichen die Hemmnisse für Parteibeitritte abzusenken.
Es wird versucht, Beitrittshemmnisse zu senken, indem man zum Beispiel online in Parteien beitreten kann, indem man die Leute in Vereinen oder am Arbeitsplatz direkt anspricht. Dann wird sich darum bemüht, die Verbleibekosten zu minimieren. Dies geschieht, indem man zum Beispiel kostenfreie Schnuppermitgliedschaften anbietet. Schließlich versucht man die Partizipationskosten zu verringern, d.h. die Kosten die dadurch entstehen, dass man sich in einer Partei engagiert: Zeit, Mühe, Geld, etc. Hier kann man beispielsweise auch überlegen, ob man die Organisationsgrenzen durchlässiger gestaltet.


Was meinen Sie mit einer höheren Durchlässigkeit der Organisationsgrenzen?
Das heißt, dass man versucht, nicht nur Mitglieder am Willensbildungsprozess zu beteiligen, sondern auch Nicht-Mitglieder an Vor- oder Zwischenstufen dieses Prozesses. Auf diese Weise kann man das Interesse der Nicht-Mitglieder erhöhen und sie vielleicht sogar von einem Parteibeitritt zu überzeugen.

Ließe sich dies denn mit dem Parteiengesetz und den Anforderungen des Grundgesetzes vereinbaren?
Rechtlich problematisch ist, dass das Parteiengesetz ausdrücklich vorsieht, dass wesentliche Entscheidungen innerhalb der politischen Parteien von Mitgliedern getroffen werden müssen. Dies ermöglicht aber zumindest gewisse Räume für die Beteiligung von Nicht-Mitgliedern im Vorfeld solcher Entscheidungen, solange man darauf achtet, dass die formale Letztentscheidung bei den Mitgliedern bleibt. Man könnte desweiteren darüber nachdenken, das Parteiengesetz zu ändern, so dass auch Nicht-Mitglieder in den internen Willensbildungsprozess einbezogen werden können. Aber das wird ohnehin nicht passieren, weil sich hierdurch die internen Machtverhältnisse verschieben: Die Funktionärsschicht wird wohl nur ungern Machtpositionen einbüßen wollen. Durch die Beteiligung von Nicht-Mitgliedern könnte man eingesessene Mitglieder verschrecken und vielleicht sogar zum Austritt bewegen.

Aber ließe sich durch die Umsetzung solcher Maßnahmen der Trend denn auch umkehren?
Nein, aber es würde in begrenztem Maße helfen, den Rückgang zu bremsen. Das Problem ist, dass die Gruppe derjenigen, die bereit ist, sich politisch zu betätigen, nunmal begrenzt ist. Und diese Gruppe hat heutzutage eine große Vielzahl an Möglichkeiten, sich außerhalb von Parteien politisch zu beteiligen. Die Zeiten, in denen eine Partei viel mehr als eine halbe Million Mitglieder hatte, sind vorbei.


Die großen Parteien können diese Entwicklung also nicht aufhalten?
Sie können sie zum großen Teil nicht aufhalten, nein. Man kann den Parteien selbst aber deshalb keinen Vorwurf machen: Sie versuchen es und es gelingt ihnen ja auch zum Teil. Letztlich verlangsamen all diese Bemühungen jedoch nur den Mitgliederschwund.

Gerade SPD und CDU wird oft vorgeworfen, dass sie an Profil verloren hätten und sich zu stark ähnelten. Trägt dies vielleicht auch zur aktuellen Entwicklung bei?
Das ist einer der häufigen Vorwürfe, dass die großen Parteien sich nicht mehr stark genug unterschieden und zu nah beieinander wären. Aber die großen Parteien sind gerade nunmal so groß, weil sie es schaffen, die verschiedenen Anhänger- und Mitgliedergruppen in sich zu integrieren. Würden Sie wieder unterscheidbarer werden, dann würden sie wiederum Mitglieder verlieren, was nicht in ihrem Interesse ist.


Sie sprachen davon, dass viele Menschen sich außerhalb politischer Parteien betätigten. Die Forderungen nach Formen direkter Demokratie auf Bundesebene scheinen zugleich auch immer lauter zu werden. Besteht da ein Zusammenhang? Bieten sich direktdemokratische Elemente insofern nicht gerade zu an, um hierauf zu reagieren?
Direktdemokratische Elemente werden ja gern als das Heilmittel für Alles angesehen. Da bin ich sehr skeptisch. Einerseits ist es durchaus richtig, dass es das Bedürfnis einer bestimmten Gruppe von Leuten gibt, sich direktdemokratisch zu beteiligen. Insofern würde man durch die Einführung solcher Elemente sicherlich diese Gruppe an die Politik heranführen. Andererseits zeigen aktuelle Studien ganz deutlich, dass sich durch die Ausweitung solcher direktdemokratischen Elemente gerade nicht die Beteiligung der allgemeinen Bevölkerung erhöht, sondern dass lediglich gewisse Gruppen hierdurch aktiver werden. Die Einführung direktdemokratischer Element würde somit dazu führen, dass die Interessen dieser Gruppen eine überproportionale Rolle in der Politik spielen würden. Bestimmte Bevölkerungsgruppen könnten hierdurch sogar von der Beteiligung abgehängt werden. Dies widerspricht dem demokratischen Gleichheitsgrundsatz.

Wird die Parteiendemokratie, so wie wir sie kennen, in den nächsten Jahrzehnten noch fortbestehen?
Die Parteien werden, aller Kritik zum Trotz, weiter fortbestehen - auch wenn die Frage, wie sie sich genau entwickeln, nicht leicht zu beantworten ist.
Die gesellschaftliche Entwicklung und die hiermit verbundenen Auswirkungen auf die Parteien sind nicht zu stoppen oder umzukehren; aber man kann deshalb nicht sagen, dass Parteien als politische Institutionen sinnlos geworden wären. Bisher haben mich keine alternativen Konzepte zu politischen Parteien überzeugen können - es gibt keine funktionalen Äquivalente für Parteien. Man kann Parteien kritisieren, wie man möchte: Politische Parteien sind ein notwendiger Bestandteil der parlamentarischen Demokratie.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person: Oskar Niedermayer wurde 1952 in Schönau bei Heidelberg geboren. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft promovierte Niedermayer an der Universität Mannheim zu der Frage: "Europäische Parteien? Zur grenzüberschreitenden Interaktion politischer Parteien im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft". 1988 folgte die Habilititation an Universität Mannheim. Niedermayer unterrichtet an der Freien Universität Berlin, seine Forschungsschwerpunkte sind Parteien, Wahlen und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist verheiratet und lebt in Berlin.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Rebuschat

Geboren 1982, zweifacher Familienvater. Volljurist, seit 2011 journalistisch tätig.

Jan Rebuschat

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