Zen und die Kunst des Türstehens

Bühne & Film Geoff Thompsons Autobiographie liest sich wie die Geschichte eines gewalttätigen, britischen Schlägers - und das ist sie auch

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"I was walking down the street in my home city of Coventry, it was early in the morning. I was thinking about the night before; in the club, where I worked as a bouncer, the violence had erupted again. I suddenly became aware of a guy walking towards me, and I realized he was the man I'd battered the night before. His face was purple, distorted and grotesque: he looked like the elephant man.”

Passagen wie diese lassen Geoff Thompsons Autobiographie Watch my Back wiedie Geschichte eines gewalttätigen, britischen Schlägers erscheinen - und das ist sie auch. Thompson ist ein Hüne, er hat unzählige Tattoos, sein Kopf ist kahlgeschoren, überall hat er Narben von Schlägereien und seine Ohren sind zu dekorativen Blumenkohlohren aufgequollen. Aber hinter der Fassade des glatzköpfigen Schlägers verbirgt sich viel mehr. „Nachdem ich von einem meiner Lehrer missbraucht wurde, wollte ich jegliche Schönheit an mir vernichten“, erklärt er. „Ich vertraute niemandem, nicht einmal mir selbst.“

Heutzutage leitet Geoff Thompson Selbsthilfekurse, schreibt Theaterstücke und Drehbücher. Sein Kurzfilm Brown Paper Bag wurde 2004 mit einem BAFTA prämiert und aktuell arbeitet Thompson an der Film-Produktion The Pyramid Texts, in welcher u.a. der schottische Schauspieler James Cosmo (Braveheart, Highlander, Game of Thrones) mitwirkt. Doch als junger Mann litt Thompson an schweren Depressionen. Jeden Morgen schleppte er sich in die Fabrik, in welcher er als Putzkraft schuftete, und abends stand er vor den Türen der gewalttätigsten Clubs in Coventry. Er war launisch und paranoid, selbst auf Familienfeiern kam es zu Schlägereien, langsam aber sicher ging seine erste Ehe in die Brüche. Der rote Faden seiner Autobiographie: Paranoia. Die wiederkehrenden Motive: Messerstechereien, Glassings, gebrochene Nasen und die nicht ganz unbegründete Angst davor, jemanden totgeschlagen zu haben. Thompson hielt damals in jedem Zimmer seiner Wohnung Waffen bereit, aus Angst vor Vergeltungsschlägen. Den Lesern seiner Autobiographie drängt sich ständig dieselbe Frage auf: Wie kam es letztlich zu seiner Veränderung? Denn Thompsons Leben hat sich drastisch geändert: Vom paranoiden Türsteher zu einem der bekanntesten spirituellen Selbsthilfe-Coachs Großbritanniens, der Gandhi zitiert und über Nächstenliebe twittert. Deshalb liest sich seine Autobiographie auch wie eine Mischung aus Irvine Welsh, Anthony Burgess und Paulo Coelho. Thompson, eine Kombination aus Clubber Lang und dem Dalai Lama.

Seine früheren Depressionen und seine gewalttätige Vergangenheit führt Thompson auf den sexuellen Missbrauch durch seinen Lehrer zurück. Doch nutzt er dieses Trauma nicht, um seine Gewalt zu rechtfertigen. Vielmehr meint Thompson, dass die Auseinandersetzung mit dem Missbrauch, die er als „facing his inner demons“ bezeichnet, ihn zu seinem Lebenswandel antrieb und die Grundlage für seine heutige Tätigkeit als Selbsthilfe-Coach war. Ein wiederkehrendes Thema seiner Arbeit ist daher auch der Umgang mit sexuellem Missbrauch. Vor kurzem wurde sein Bühnenstück Fragile mit großem Erfolg auf dem Edinburgh Festival Fringe aufgeführt. „Das Schreiben dieses Stücks ging an sich recht zügig, ich habe etwa zehn Stunden gebraucht – aber es hat vierzig Jahre gedauert, bis ich es aufschreiben konnte.“, erzählt Thompson. „Es war so wie eine letzte Reinigung und sehr schmerzhaft, da ich einige meiner tiefsten Scham- und Angstgefühle konfrontieren musste. Es war so, als ob man einen Wasserhahn in einem alten Haus aufdreht: Zunächst kam nur braune Brühe aus der Leitung, doch jetzt ist das Wasser wieder klar.“

Die Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch ist nicht neu, doch Thompsons Ansatz ist gewagt: Thompson erzählt in Fragile, wie er seinem Missbrauchstäter verziehen hat. Eine Sache, welche für die meisten Menschen nach so einer Erfahrung unvorstellbar sein dürfte. Doch Thompson glaubt, dass dies für seinen Heilungsprozess notwendig gewesen sei: „Als Opfer bleibt man dem Trauma verhaftet, wodurch die Tat einen immer begleitet – der Täter lebt in der Erinnerung an die Tat fort.“, meint er. „Man befreit sich selbst, wenn man verzeiht. Um bei dem Vergleich mit dem Wasserhahn zu bleiben: Das Wasser in dem Rohr ist dreckig. Wer hat es verschmutzt? Das ist letztlich völlig egal, darüber könnte man sich Ewigkeiten Gedanken machen, aber es würde am Ergebnis nichts ändern: Es muss gereinigt werden."
Die Reaktionen auf Fragile fielen überwiegend positiv aus, was Thompson mit der Authentizität der Geschichte erklärt: Er schreibe den Leuten nicht vor, wie sie auf solche Taten zu reagieren hätten, sondern erzähle einfach nur seine eigenen Erfahrungen. "Ich verdamme sexuellen Missbrauch weiterhin. Das sind Taten, die strafrechtlich geahndet werden müssen.", sagt Thompson. "Aber man muss als Betroffener loslassen und verzeihen, um frei sein zu können.“

Thompson wirkt bodenständig und zeichnet sich durch seine Direktheit und den offenen Umgang mit seiner Depression aus. Weder will er die Leute belehren, noch ihr Mitleid erheischen. Er schreibt nicht als überheblicher Besserwisser, sondern als Betroffener, der autodidaktisch seine Depression überwand und den Lesern seinen Weg aus der Krankheit zeigen möchte. Hierbei schafft es Thompson, seine Sicht der Dinge zu vermitteln, ohne jemals missionarisch zu wirken. Es gibt eine Menge selbsternannte Seelsorger, Coaches und Gurus, die einem die Erlösung im Taschenbuchformat oder als besonders "günstigen" Workshop andrehen wollen – Thompson gehört nicht dazu.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Rebuschat

Geboren 1982, zweifacher Familienvater. Volljurist, seit 2011 journalistisch tätig.

Jan Rebuschat

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