Zwei Arten von Tieren

Buchbesprechung Richard David Precht zeigt in seinem neuen Buch "Tiere Denken", dass zwischen Mensch und Tier nach wie vor ein gespaltenes Verhältnis herrscht.

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Mittagstisch in Essen-Borbeck, 1974
Mittagstisch in Essen-Borbeck, 1974

Bild: Pieter Aertsen, Still Life with Meat and the Holy Family (ca. 1508) (Public Domain)

Braucht Deutschland eigentlich wirklich noch ein weiteres Buch zum Umgang mit Tieren? Seit 1990 stellt unser BGB ausdrücklich klar, dass Tiere keine Sachen sind und unser Tierschutzgesetz gilt vielen als vorbildlich. Die Statistiken variieren, doch gibt es circa 7 Millionen Vegetarier und eine Million Veganer in diesem Land. Und auch in Deutschland empörten sich unzählige Menschen darüber, dass der Löwe Cecil von einem Zahnarzt aus Minnesota erschossen wurde. Wir Menschen haben aus unseren vergangenen Fehlern gelernt, könnte man sagen.

Scheinbar. Denn Richard David Precht zeigt den Lesern seines jüngsten Buches, dass immer noch ein gespaltenes Verhältnis zwischen Mensch und Tier herrscht. Denn trotz aller positiven Entwicklungen: „In Westeuropa gibt es inzwischen mehr Massentierhaltung, mehr Legebatterien und mehr industrielles Tierelend als je zuvor.“ Es ist diese ambivalente Beziehung der Menschheit zu den Tieren, welches Precht in seinem neuesten Buch Tiere denken thematisiert und in welchem er nach praktikablen Lösungsansätzen sucht.

Prechts Buch gliedert sich in vier große Abschnitte. Im ersten Abschnitt Das Menschentier betrachtet der Autor die Stellung des Menschen in der Natur. Pointiert stellt er dar, wie sich unser Selbstbild über die Jahrtausende entwickelt hat und bis heute äußerst kompliziert bleibt. Sind wir Tiere? Oder nehmen wir doch eine Sonderstellung in der Welt ein? „Es gibt zwei Kategorien von Tieren“, so Precht. „Die eine glaubt, dass es zwei Kategorien von Tieren gibt, und die andere hat darunter zu leiden.“ Hervorragend arbeitet er den Anthropozentrismus heraus: Regelmäßig begreift sich die Menschheit als den Nabel des Weltgeschehens. Dieser Abschnitt ist zugleich eine Auseinandersetzung mit den philosophischen und religiösen Ansichten der verschiedenen Jahrtausende. Ob es nun Aristoteles mit seiner scala naturae oder Descartes mit seinen seelenlosen Maschinen ist; Alfred Brehm, der in den Mandrills „Zerrbilder des Teufels“ zu erkennen meint; oder Nietzsche, der einsichtig feststellt: „Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.“. Unabhängig davon, ob an eine ewige Schöpfung oder an eine fortschreitende Entwicklung geglaubt wurde. Ob als „Krone der Schöpfung“ oder „vollkommenstes Herrentier“: der Mensch schnitt immer schon am besten ab - zumindest aus der Sicht des Menschen.

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Doch was ist es nun, was diese Sonderstellung begründen soll? Der aufrechte Gang? Die nackte Haut? Der Einsatz von Werkzeugen? Die Sprache? Das Gehirn? Precht zeigt auf, dass alle herangezogenen Unterscheidungskriterien problematisch sind und stets menschlichen Kategorien verhaftet bleiben. Selbst Wissenschaftlicher, die eigentlich objektive Distanz wahren sollten, werden stark von den jeweiligen gesellschaftlichen Vorstellungen beeinflusst. „Menschen haben einen Hang dazu, nur das als gleichwertig anzusehen, was ihnen sehr ähnlich ist.“, resümiert Precht. „Für Männer im europäischen Kulturkreis fielen damit nicht nur andere Tiere aus der Moral heraus, sondern sehr lange auch Frauen.“

Der zweite Abschnitt Das Tier im Auge des Menschen analysiert unsere gesellschaftliche Sicht auf Tiere. In Prechts Augen ist es hierbei wohl vor allem die Religion gewesen, welche „unsere Nabelschnur kappte“. Während in frühesten Zeiten Mensch und Tier eine Schicksalsgemeinschaft bildeten, in welcher Tiere aufgrund ihrer Wichtigkeit für das Überleben eine besondere Rolle einnahmen und oft sogar rituell bestattet wurden, hätten die abrahamitischen Religionen eine klare Hierarchie etabliert, die noch heutzutage kaum hinterfragt werde: Gott erschuf die Tiere, damit die Menschheit sich an ihnen bedienen könnte. Hierbei legt Precht dar, dass die religiöse Sicht auf die Tiere stark von der jeweiligen Umwelt geprägt wurde. Während beispielsweise die frühe vedische Religion in Indien ohne größere Schwierigkeit Vegetarismus predigen konnte, spielte die fleischliche Ernährung im Mittelmeerraum eine wesentlich bedeutsamere Rolle. Und auch im buddhistischen Tibet sei eine rein vegetarische Ernährung zumindest in den Wintermonaten kaum möglich gewesen. Interessant ist in diesem Abschnitt auch die Darstellung des alten Ägyptens mit seiner teils bizarr anmutenden tierfreundlichen Haltung, die sich zum Beispiel in der Todesstrafe für die vorsätzliche, grundlose Tötung eines Tieres zeigte. Doch malt Precht dieses historische Bild nicht in schwarz und weiß und benennt auch europäische Stimmen, welche sich für einen besseren Umgang mit Tieren aussprachen, doch leider in ihrer Zeit ungehört verhallten, wie zum Beispiel die Kelsos, Empedokles, Franziskus von Assisi, Leonardo da Vinci, Erasmus von Rotterdam, Humphrey Primatt oder Jeremy Bentham. Precht sieht hierbei in der menschlichen Entwicklung eine Geschichte der Entfremdung: Von der Natur, den Tieren, aber auch von sich selbst als Teil der Natur. Lobenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Precht bei seiner Darstellung sachlich bleibt: Er bedient sich insbesondere nicht des verbreiteten Klischees vom „weisen fernen Osten“, in dem quasi-paradiesische Harmonie herrschen würden. Stattdessen lässt er erkennen, dass der Umgang mit Tieren weltweit problematisch war und ist. Lob verdient auch, dass Prechts Kritik nie plump, sondern stets ausdifferenziert und sachlich begründet ausfällt. Doch schafft Precht es geschickt, hierbei weder pathetisch-verklärt, noch besserwisserisch-belehrend zu klingen. Angriffsfläche für den Vorwurf des Dogmatismus gibt höchstens vielleicht seine Kritik am Kapitalismus: Der Wert der Tiere (aber auch des Menschen selbst) werde nach seiner ökonomischen Nützlichkeit bestimmt. Angesichts der Massentierhaltung und den Kampf an der Theke um den billigsten Preis ist dies auf den ersten Blick nicht ganz von der Hand zu weisen: Doch liegt es wirklich am Kapitalismus? Das ist fragwürdig und wirkt etwas zu kurz gegriffen. Interessant, wenn auch nicht neu, ist die Parallele, welche Precht in diesem Abschnitt zu der gesellschaftlichen Situation von Frauen und Minderheiten zieht. Doch gerade mit diesem Argument werden sich Menschen schwertun, welche von einer Sonderstellung der Menschheit ausgehen.

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Im dritten Abschnitt zeichnet Precht den Grundriss für Eine neue Tierethik. Hierbei knüpft er an sein 1997 erschienenes Buch Noahs Erbe an und spricht sich für einen Umgang mit Tieren auf der Basis einer „Ethik des Nichtwissens“ aus: „Wir wissen letztlich zu wenig von dem, was in anderen Lebewesen vor sich geht, um darüber klar zu urteilen und entsprechend zu handeln.“ Was in dieser verkürzten Form diffus und ein klein wenig nach Ausflucht klingt, formuliert Precht einleuchtend und vernünftig aus. Dies ist überhaupt eine der Stärken des Autors: er argumentiert, ohne dabei in Emotionalität zu verfallen. Polemik und Provokation sind nicht die Sprache dieses Buches. Doch widmet sich Precht in diesem Kapitel auch kritisch mit anderen Auffassungen über den Umgang mit Tieren. Hierbei bemängelt er das „elitäre Selbstverständnis“ vieler Tierrechtler und deren zuweilen „eigentümlich sichere Sicht in das Innenleben von Tieren“. Precht plädiert für eine pragmatischere, strukturbezogene Lösung: „Solange die Schuld an den vielen Missständen entweder Homo sapiens im Großen und Ganzen oder jedem einzelnen Mitbürger als persönliches Totalversagen zur Last gelegt wird, ist kaum zu erwarten, dass jemand sein Verhalten ändert.“ In diesem Zusammenhang stellt Precht auch die Frage, ob andere Lösungsvorschläge nicht bereits einen grundlegend verkehrten Ansatz wählen, wenn sie an die Vernunft der Menschen appellieren: Wie groß ist der Anteil der Vernunft am tagtäglichen Handeln des Menschen? Precht schlägt vor, sich stattdessen bei der Lösung an der gesellschaftlichen Funktion der Moral zu orientieren: „Lebewesen, die Absichten haben und Absichten bei anderen erkennen und danach handeln, brauchen eine Art Verhaltenskodex. Dabei orientieren sie sich am Verhalten der Artgenossen innerhalb der Gruppe oder Horde, in der sie leben. […] Achte ich andere, fühle ich mich gut, missachte ich die Interessen anderer und werde dafür von ihnen gestraft, fühle ich mich schlecht.“ Eine Lösung müsse demnach an diesem System anknüpfen und die Achtung auf die Interessen der Tiere ausweiten.

Diese These lässt Precht nicht im luftleeren Raum hängen, sondern benennt praktische Umsetzungsmöglichkeiten in dem letzten Abschnitt seines Buches Was tun? Grundlegend für eine praktikable Tierethik sei dabei, dass diese „nicht in erster Linie auf Gerechtigkeit, Freiheit oder andere Werte“ setzten, sondern zu überlegen sei, „welche Rolle Tiere innerhalb des Miteinander-Klarkommens realistisch spielen könnten“. Der Gedanke leuchtet ein: Wenn Tiere als Teil der Gesellschaft angesehen werden, so dürfte sich auch die Wahrnehmung des Umgangs mit Tieren ändern. Jemand, der zum Beispiel auf offener Straße seinen Hund schlägt, wird heutzutage die Kritik der meisten Mitmenschen auf sich ziehen. „Allem Anschein nach entsteht moralischer Fortschritt in einer Gesellschaft weniger durch gute Argumente als dadurch, breite Schichten der Bevölkerung für bestimmte Probleme zu sensibilisieren.“ Tatsächlich: Man wird wahrscheinlich mehr Leute mit Dokumentationen wie z.B. Earthlings erreichen, als bloß mit rationalen Argumenten allein. Precht setzt hierbei auf kleine Schritte im Sinne eines „Meliorismus“; Schritt für Schritt müsse der Sensibilisierungsprozess vorangetrieben werden, um „die Schizophrenie zu verringern, die zwischen Tun und Fühlen“ liege. Dies könne dadurch erreicht werden, dass man die Lebensbedingungen der Tiere in der Massentierhaltung und in Forschungseinrichtungen auf eine Weise sichtbar macht, der sich die Bevölkerung nicht entziehen kann. Um es mit Jean-Claude Wolf auszudrücken: „In der Psychiatrie, im Strafvollzug und in der Massentierhaltung findet eine Exilieren und administrative Bürokratisierung von Vorgängen statt, deren Anblick wir nicht ertragen, obwohl wir auf ihre Vorteile nicht verzichten wollen.“ Dabei ist Precht kompromisslos realistisch, wenn er zum Beispiel einräumt, dass trotz aller Rationalität auch ästhetische Aspekte eine Rolle spielen: Eine unschuldig weiße Ratte eignet sich als süßes Haustier, eine graue Ratte wird als unwertes Leben empfunden. Auch wird man wohl mehr Menschen für die Rettung eines Tigers begeistern können, als für die Rettung einer Insektenart.

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Harsch fällt Prechts Kritik am deutschen Tierschutzrecht aus: Das Tierschutzgesetz gehe seinem Wortlaut nach von Tieren als „Mitgeschöpfen“ aus. Doch bleibe diese „Mitgeschöpflichkeit“ angesichts der Zustände in Deutschland eine leere Worthülse. Hinsichtlich dieser verwaltungsrechtlichen Materie, welche den Umgang mit Leben in sachlicher Sprache regelt, spricht Precht sogar von der Banalität des Bösen. Gemäß § 1 S. 2 des Tierschutzgesetzes darf niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen: „Zwar braucht nur ein Nerz aus vernünftigen Gründen einen Nerz“, so Precht. „aber das Tierschutzgesetz sieht das anders. […] Gemeint sind nicht vernünftige Gründe, sondern ökonomische Gründe“. In diesem Abschnitt spürt man die Leidenschaft in Prechts Worten, doch auch hier nie dogmatisch verblendet. Und die Kritik ist auch begründet: „Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen“, fordert beispielsweise § 2 Nr. 1 des Tierschutzgesetzes. Man braucht kein Zoologe zu sein, um zu erkennen, dass die Massentierhaltung und Forschungseinrichtungen wohl schwerlich darunter fallen können. Prechts Meinung nach gibt es aus diesem Grund kein anderes Feld, auf dem „das Selbstverständnis dessen, was die hiesige Gesellschaft juristisch für zulässig hält, der Meinung der meisten Bürger dermaßen widerspricht wie beim Tierschutz“. Eine Einschätzung, die ich nicht teile. Auch die von Precht beschriebene „Schizophrenie“ zwischen Tun und Fühlen kann man nicht auf alle Menschen anwenden: Die Tatsachen sprechen für sich - vielen Menschen sind Tiere einfach egal, alles andere sind bloße Lippenbekenntnisse. Doch das weiß wahrscheinlich auch Precht: „Wozu sollte ich erzählen, was der deutsche Durchschnittsbürger längst weiß oder eben nicht wissen will.“ Geschickt hinterfragt Precht Stereotypen, wie die der „menschlichen Natur“: „Definieren wir unsere heutige Kultur nicht gerade dadurch, reines Instinktverhalten und barbarische Moralvorstellungen überwunden zu haben?“ Doch auch Tierschützern und Tierrechtlern wird kritisch auf den Zahn gefühlt; die beiden Hauptkritikpunkte sind hierbei erstens ein gewisser Elitarismus, welcher der Sache des Tierwohls schade, zweitens die Inanspruchnahme des Wissens, was am besten für die Tiere sei.

Mit gemischten Gefühlen betrachte ich Prechts Eifer bezüglich künstlich hergestellten Fleisches. Doch seine Vision, wie sich die Akzeptanz des cultured meat entwickeln könnte, ist zugleich die witzigste Passage des ganzes Buches: So lässt Precht u.a. Böhmermann mit einem „Ich esse Tiere!“-T-Shirt auftreten, Jan Fleischhauer („inzwischen Kolumnist der Jungen Freiheit“) Schlachthoffleisch als „Recht auf Blut und Boden“ verteidigen, Fast-Food-Ketten das In-Vitro-Fleisch an ihre Kunden und sich zugleich als Tierliebhaber verkaufen sowie eine „männliche“ Real-Beef-Bewegung entstehen, welche über fettarmes Kunstfleisch als „Frauenprodukt“ witzelt. Precht sieht das künstliche Fleisch als den Hebel, um die Massentierhaltung „ein für alle Mal zu erledigen“. In der Theorie klingt das plausibel, doch gilt es abzuwarten, ob die Einführung künstlichen Fleisches ungefährlich ist. Kaum vorstellbar ist es auch, dass Deutsche, die aktuell wohl überwiegend genmodifizierte Nahrung ablehnen, freudig auf in-vitro-Fleisch umsteigen werden.

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Tiere denken ist ein gelungenes Buch, welches einen rationalen Beitrag zum Diskurs um den Tierschutz darstellt. Richard David Precht wirkt nie hysterisch und extrem, sondern stets besonnen und sachlich. Man braucht kein „Veganer Stufe 5“ sein, um dieses Buch zu mögen. Als Fleischesser hatte ich nie das Gefühl, dass mich der Autor am liebsten vom Planeten fegen würde oder dass ich mich gefälligst selbstkasteien sollte. Prechts Sprache ist klar, der Text liest sich schnell und flüssig, seine Bilder und Gedankenexperimente wirken nie gekünstelt. Braucht Deutschland weitere Bücher zum Umgang mit Tieren? Wenn sie so sind wie Richard David Prechts Tiere denken, dann lautet die Antwort: Ja.

Tiere denken - Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen ist am 17. Oktober 2016 beim Goldmann Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch mit 507 Seiten 22,99 €.

Richard David Precht wurde 1964 in Solingen geboren. Precht ist Philosoph, Autor, Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg sowie Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seine Bücher wie "Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?", "Liebe. Ein unordentliches Gefühl" und "Die Kunst, kein Egoist zu sein" wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung »Precht« im ZDF, für die er 2013 mit dem Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie "Besondere Leistung" ausgezeichnet wurde.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Rebuschat

Geboren 1982, zweifacher Familienvater. Volljurist, seit 2011 journalistisch tätig.

Jan Rebuschat

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