Der Freitag: Herr Richter, haben Sie gestern gewählt?
Emanuel Richter: Selbstverständlich. Wenn der Politologe nicht wählen geht, sieht es düster aus. Der Andrang in meinem Heimatort in Südhessen war allerdings sehr mau.
Die Wahlbeteiligung war so niedrig wie nie. Nur rund 43 Prozent der Wahlberechtigten haben in Deutschland und Europa Ihre Stimme abgegeben. Was ist das Problem: Europaverdrossenheit oder Demokratiemüdigkeit?
Weder das eine, noch das andere. Erstens gibt es ein Strukturproblem: Wir haben überall sinkende Wahlbeteiligung, nicht nur bei Europawahlen. Dieses Strukturproblem weist auf Defizite hin. Die Leute wissen nicht genau, wen sie wählen, es gibt keine richtigen Alternativen, es gibt keine scharfe Trennlinie zwischen Regierung und Oppos
en Alternativen, es gibt keine scharfe Trennlinie zwischen Regierung und Opposition. Zweitens lässt das Interesse an solch formalen Wahlakten nach. Ich habe die Hoffnung das Ersatz geschaffen wird durch neues soziales Engagement und die Zivilgesellschaft. Wenn neue Formen demokratischen Engagements entstehen, könnte das eine Rückwirkung geben und einen Teil der Wahlmüdigkeit wieder aufheben. Europaspezifisch muss man drittens sagen, dass das Europäische Parlament noch keine besonders wichtige Institution ist. Es hat zwar durch schon mehr Rechte als früher, allerdings kaum einen Einfluss auf die Bestellung der europäischen Regierung, also die Staats- und Regierungschefs, die Ministerräte und die EU-Kommission. Der Einfluss des Wählers ist denkbar gering.Hat die Europäische Union also ein Demokratiedefizit?Ja, aber das hatte sie von Anfang an. Ein Volk, dass eine Art von Gründungsakt vollzieht oder per direkter Demokratie unmittelbar Einfluss hat, hat es nie gegeben. Es gibt zum Beispiel keine richtige Gewaltenteilung. Das Parlament ist kein gesetzgebendes Organ, die wichtigsten Gesetzgeber sind die Staats- und Regierungschefs. Der Europäische Gerichtshof hat sich massiv in den Vordergrund gespielt. Da stimmt es vorne und hinten nicht. Selbst wenn der Lissabonvertrag käme, würden diese Defizite nur sehr vermittelt beseitigt.Dennoch vertreten sie die These, dass eine niedrige Wahlbeteiligung nicht per se negativ ist.Es kann für die Beteiligung an Wahlen durchaus Ersatz geben. Wenn die Bürger sich auf anderen Wegen engagieren ist das auch in Ordnung. Niemand darf nur am formalen Wahlakt kleben und sagen, das ist die einzige Form für eine funktionsfähige Demokratie. Es gibt andere Formen des partizipativen Engagements. Ich bin mir sicher, dass sich unter den Nicht-Wählern bei der Europawahl auch einige so genannte reflektierte Nicht-Wähler finden. Menschen, die ganz bewusst nicht wählen gegangen sind, weil sie andere Formen der Mitwirkung präferieren.Unterstützen Nichtwähler – ob reflektiert oder unreflektiert – nicht extreme Kräfte, wie die Rechtspopulisten in den Niederlanden?Dass bei dieser Wahl die Ränder gestärkt wurden, vor allem rechts, aber auch links, ist mit der geringen Wahlbeteiligung nicht zu erklären. Vielen Wählern ging es vornehmlich um die Abstrafung ihrer nationalen Regierungen. Dieser Effekt ist massiv. In Großbritannien wackelt die Regierung Brown, auch in anderen Ländern haben die regierenden Parteien massiv verloren, während die Opposition gestärkt wurde. Diese Abstraf-Aktionen kommen natürlich den Parteien am rechten Rand zu Gute. Es hätte aber auch schlimmer kommen können.Im Vorfeld der Europawahl haben Wahlforscher von einer „Wahl der Bessergebildeten“ gesprochen. Haben Sie Recht damit?Ich kann das nicht bestätigen. Das hängt sehr von der Partei ab. In Deutschland etwa kann man feststellen, dass bei den CDU-Wählern ein relativ geringer Anteil an Bessergebildeten ist. Die Akademiker und Gebildeten sind ganz massiv bei den Grünen zu finden. Sicher ist aber, dass unter den Nichtwählern relativ viele Ungebildete sind. – vermutlich unreflektierte Nichtwähler.In Luxemburg gibt es eine EU-Wahl-Wahlpflicht. Wäre es nicht sinnvoll so auch in Deutschland die Wahlbeteiligung zu steigern?Es muss gelingen, die Bürgerinnen und Bürger – ob durch Wahl oder andere Formen der Partizipation – , auf freiwilliger Basis für Politik zu motivieren und zu mobilisieren. Das sollte man nicht über Strafandrohungen regeln. Eine Wahlpflicht wäre ein Armutszeugnis, ein Ausweis von Phantasielosigkeit und Erschöpfung der Demokratie.Zurück zur "Europaverdrossenheit": Welche Auswirkungen haben Klagen gegen den Lissabonvertrag wie die von Peter Gauweiler (CSU) und der Partei Die Linke? Europa steht schließlich vor Gericht – was soll der Wähler da bloß denken?Als reflektierter Bürger denke ich, dass eine lebhafte Diskussion im Gange ist. Kontroversen sind überhaupt nicht tragisch. Die Klagen gegen den Lissabonvertrag sind noch anhängig, es ist nichts entschieden. Ich kann mir aber vorstellen, dass da noch ein Hammer kommen könnte. Nämlich, wenn das Bundesverfassungsgericht (BVG) sagen würde, der Lissabonvertrag müsse vom Volk legitimiert werden, weil er massiv in den Grundrechtsschutz und die nationalen Verfassungsgrundsätze eingreift. Dann müsste das deutsche Volk nach Artikel 146 GG in freier Selbstbestimmung beschließen, Teile seiner Souveränität abzugeben. Wenn das BVG eine Volksabstimmung erzwingen sollte, dann wäre das eine schallende Ohrfeige für die Politik, dann wackelt alles.Was müssen die neu- und wiedergewählten Parlamentarier bis zur nächsten EU-Wahl besser machen?Die tun mir ehrlich gesagt leid: Die Prügel, die sie bekommen gelten doch eigentlich den nationalen Regierungen und der EU als institutionellem System. Nein, das EU-Parlament hat eine ziemlich gute Arbeit gemacht. Die Parlamentarier haben ihre Arbeit erledigt, um ihre Rechte gekämpft und diese beharrlich erweitert. Insofern wüsste ich nicht, was sie strukturell anders machen müssten. Was nicht funktioniert, ist die Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Aber das liegt nicht in der Hand des Parlaments. Die Regierungschefs müssen dem Parlament mehr Entscheidungsbefugnis geben und die Gewaltenteilung gerade rücken.Das Interview führte Janusz Biene.