Der Freitag wurde 1990 gegründet und ist darum immer so alt wie die neue Bundesrepublik. Das ist gut. Da weiß man gleich, woran man ist. Dreißig Jahre jetzt also. Eigentlich ein Alter, in dem man langsam erwachsen werden sollte. Ich meine natürlich unsere neue Republik, nicht die Zeitung.
Aber gerade in der Coronakrise haben Politik und Gesellschaft keinen besonders reifen Eindruck gemacht. Irgendwo zwischen früh vergreist und spätpubertär. Wenn sich Widerstandskraft in der Krise beweist, dann schwächelt Deutschland. Man kann auch sagen: Mit unserem Immunsystem stimmt etwas nicht. Und da geht es nicht um die Krankheit.
Die Politik hat sich durch überschießende Maßnahmen hervorgetan und die Medien durch vorauseilenden Gehorsam. Die Schulen zu schließen, war falsch, und die Alten in Heimen und Krankenhäusern sich selbst zu überlassen, war verantwortungslos, und beides konnte man schon im Frühjahr wissen.
Aber die Leute waren ganz zufrieden damit, dass man ihnen mehr Freiheit nahm, als nötig war, und die Medien haben die Regierung noch dafür gelobt. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Menschen ihre Rechte und ihre Freiheit ganz von selbst schätzen und dass die Medien in der freien Gesellschaft sich ganz von selbst dafür einsetzen. Man kann den Leuten Rechte und Freiheit auch ausreden und auf Dauer vergessen sie sie, und die Journalisten sind nicht immer eine Hilfe. Nicht wenige Journalisten ziehen es vor, die Regierung zu stabilisieren, anstatt sie zu kritisieren. In der Coronakrise war das besonders auffällig. Es redet nur kaum jemand darüber. Claus Kleber, Anchorman des ZDF, war da eine Ausnahme. Als die erste Welle abgeklungen war, übte Kleber Selbstkritik: Er müsse jetzt im Rückblick feststellen, dass er hin und wieder eine „Pressesprecherhaltung“ eingenommen habe, sagte er in einer Videokonferenz im Netz. Dabei sei er nicht der Sprecher des Gesundheitsministeriums oder der Bundeskanzlerin. „Das ist nicht meine Aufgabe als Journalist.“
Der zweite Blick
Es ist beunruhigend, dass ein so erfahrener Journalist in einer Krise, die keine wirklich existenzielle Dimension erreichte, so schnell seine innere Unabhängigkeit einbüßte. Vielleicht hängt das mit der Größe zusammen. Die wichtigen Fernsehsender, die bundesweiten Zeitungen, die großen Magazine – egal –, sie alle erliegen leicht der Versuchung, dem Druck ihrer Leser nachzugeben. Und wenn die Leser in Panik geraten, gehen die Journalisten eben mit und bedienen diese Panik. Relative wirtschaftliche Unabhängigkeit bedeutet bei den großen Medien nicht immer inhaltliche. So verblüffend das klingt: Eine kleine Zeitung hat es da leichter.
Die Leser des Freitag suchen den zweiten Blick, suchen die unerwartete Analyse, die nicht erzählte Geschichte und vor allem die unabhängige Haltung. Darum bemühen wir uns.
Der Freitag hieß einmal Die Ost-West-Wochenzeitung. Wir haben diesen Untertitel irgendwann abgelegt, weil wir fanden, dass die soziale Frage nicht mehr mit der geografischen identisch ist: Wenn in Bochum die Schulgebäude bröckeln, ist das kein kleinerer Skandal als der Verfall der sozialen Infrastruktur im Osten. Aber wir vergessen nicht, woher wir kommen: Der Freitag entstand aus der Verbindung einer sehr linken Westzeitung mit einer für die örtlichen Verhältnisse ziemlich bürgerlichen Ostzeitung. Das Ergebnis war folgerichtig eine, sagen wir, linksbürgerliche Wochenzeitung, und zwar für ganz Deutschland. Die wird jetzt 30 Jahre alt. Das ist eine gute Gelegenheit für Leser und Zeitung, sich gegenseitig dafür zu beglückwünschen, dass sie einander haben.
Kommentare 17
Habe den Freitag von Anfang an gelesen. Immer wieder mal das Abo gekündigt. Die TAZ am Wochenende abonniert und gekündigt. Am Kiosk hier im Osten nach linken Zeitungen gesucht. Selten gefunden. Sie wurden weniger. Die Inhalte belangloser. Ein Abo-Kündigung war einmal meine Frustation über die hochtrabend-unverständliche Sprache. Die Anfangsausgaben des Freitags waren für mich die spannensten.
Enttäuscht bin ich auch jetzt nicht. Daniela Dahns Einschätzung ist richtig. Es gibt noch Luft nach oben. Die Kapitalismusanalyse ist ausbaufähig.
Und bitte wehrhaft bleiben gegen Ungemach von oben. Alles gute.
"linker journalismus" sollte nicht "auch ein bisschen die welt verändern."
er sollte, nach reich-weite, in die lebens-welt der leser wirken,
laufende geschäfte und das "sich-vollziehen" des lebens der vielen
kritisch-urteilend begleiten.
das heißt meist: umlaufende meinungen zu politik und kultur zu prüfen,
gut-begründet: korrekturen und beschleunigungen anzumahnen.
dabei immer bewußt der grenzen, die nicht nur als uns vor-gegeben gelten,
sondern uns auch tat-sächlich limitieren.
oda?
'Der Freitag' ist eine wichtige Publikation im deutschsprachigen Europa.
Wie bereits von @GCK gesagt "Es gibt noch Luft nach oben. Die Kapitalismusanalyse ist ausbaufähig."
Herzlichen Glueckwunsch.
....grenzen, die nicht nur als uns vor-gegeben gelten, sondern uns auch tat-sächlich limitieren.
....zu durch-brechen!
da liegt ein miß-verstehen vor:
versuchen Sie mal, Ihre persönliche endlichkeit zu durchbrechen!
es ist schon wichtig,
daß was veränderbar ist, von natur-gesetzlichem zu scheiden.
das war gemeint.
korr.: über-schärfen, wie "ß" statt "s" sind auch zu meiden...
und quasi-naturgesetzlichen betrieb, der gesellschaftlich-eingespielt ist,
zu modifizieren, gar abzustellen, ist auch nicht von pappe...
Gut, dass Augstein Gärtner ist. Vor einigen Jahren glich das gärtnerische Dasein oft einem eher harmlosen Zeitvertreib. Heute dient Gärtnern der Rettung der Welt, nämlich der Artenvielfalt. Der raren Pflanze, die der Freitag ist, gilt es ein Umfeld zu schaffen, in dem sie weiterhin prächtig gedeihen kann, widerstandfähig bleibt, aber auch in die Lage versetzt wird, Schönheit hervorbringen.
Kommentar zum dF-Jubiläum: siehe hier.
Gratulation zum Durchhaltevermögen und zum Mut, die Waffe der Kritik weiter auszubauen, den utopischen Geist einer "Anderen Gesellschaft" wach zun halten. (Ein Abo zur Unterstützung ist Ehrensache, ein Minimum).
Bildung ist im Kern eine weltoffene und wertsensible Haltung mit geschärftem Krisenbewusstsein. Die Freitag-Redaktion leistet hier einen aktiven Beitrag.
Jakob Augstein ist immer wieder mal der Reinhold Messner des Journalismus.
Beste Grüße vom Bildungswirt
»Über linken Journalismus, der auch ein bisschen die Welt verändern will«
Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum!
Unterstützenswert Ihre Zielsetzung, dankenswert Ihr Mut, in diese Richtung mit all den praktischen Konsequenzen auch zu gehen und nicht nur darüber zu theoretisieren!
Vielen Dank auch für die Möglichkeiten, die Sie anderen dadurch eröffnen!
Konstruktiv kritische Anmerkungen: Die zweifelsohne unverzichtbare Kritikfähigkeit eines jeden umfasst gleichermaßen das aktive Vermögen, andere wie auch sich selber angemessen zu kritisieren, und das passive Vermögen mit der Kritik anderer ebenso angemessen umzugehen.
Auf eine dreißigjährige „Sturm- und Drangphase“ sollte nach meinem Ermessen jetzt die Entwicklung zumindest in die Richtung (alters-)“weiser Ausgewogenheit“ und nicht (alters-)dummen Starrsinns gehen. Die Natur macht es einem vor, dass es nicht einfach nur um Vielfalt geht, sondern dass das dynamisch harmonische Miteinander all der völlig unterschiedlichen Aspekte Voraussetzung für das Gelingen ist. Dort, wo dieses konstruktive Miteinander durch Übertreibung einseitiger Entwicklungen aus den Fugen gerät, können sich massive Störungen entwickeln. Das gilt natürlich auch für den Menschen und all sein Tun.
Um den Anforderungen im 21. Jh. auch nur annähernd gerecht werden zu können, sollte es unverzüglich um die Überwindung sturer, verhängnisvoller Einseitigkeit gehen. Aber Pluralismus alleine ist strohdumm. Vielsichtigkeit alleine ist ein notwendiger Ansatz, aber ohne Globale Intelligenz ist sie genauso dumm. Es braucht sowohl die Fähigkeit, Unterschiede und Gegensätze zu erkennen und anzuerkennen, als auch die unbestechliche Klarheit, mit diesen konstruktiv umzugehen und deren jeweiliges Mischungsverhältnis in der jeweiligen ganz konkreten Situation zu erkennen und anzuerkennen und je nach Anforderung dann auch umsetzen zu können.
Der Übergang von einseitigem Entweder-oder-Denken hin zu einem wirklich klugen Sowohl-als-auch-Denken, vollzieht sich nicht in den bisherigen Denkkategorien. Es ist eben nicht plötzlich alles gut und richtig, sondern stets nur das, was sich aus der Dynamik der ganz unterschiedlichen Aspekte in der konkreten Situation ergibt. Das ist eine völlig neue Dimension des logischen Denkens (allerdings dem gesunden Menschenverstand oft wohlbekannt), in der das Gegenteil von Entweder-oder eben nicht (automatisch / zwangsläufig) die Beliebigkeit ist, sondern eine wesentlich höhere Genauigkeit als je zuvor ermöglicht.
Auf Ihrem Weg, die Welt ein bisschen zu verändern, wünsche ich Ihnen, der Redaktion und den Gastautoren mehr und mehr Mut und Entschiedenheit in diese Sphären tatsächlich fortschrittlichen Denkens vorzudringen und den „der Freitag“ zu einem diesbezüglichen Leuchtfeuer zu machen.
Herzlichen Glückwunsch zum dreissigjährigem Jubiläum ! Wir sind froh, dass es den - der Freitag gibt.
PS: Ich wünsche mir regelmässige Artikel zu gemeinwohl-orientrierten Unternehmen hier und weltweit, also zum Thema, w i e es sein sollte....
....und ich hatte (nur) die Regime-System-lichen Grenzen/Schranken im Sinn!
Glückwünsche sind sicher willkommen, mehr aber wohl noch Abos! :-)
Dann wäre nützlich vorher zu klären, ob man dann auch regelmäßig die Zeit zum Lesen hat und falls nicht: was streicht man dafür aus seiner Liste?
hallo, lieber herr augstein. es ist glaube ich diese beliebigkeit des "zweiten blicks" (oder wie das ZDF sagt: "mit dem Zweiten sieht man besser") die den freitag heute so verwechselbar macht. außer in ihrem vorspann "über linken journalismus" habe ich ihrem artikel nicht viel entnehmen können, was die "im zweifel linke" (augstein senior über den spiegel) blattlinie ausmacht. da haben sie schon weit bessere leitartikel geschrieben, mit mut zum gegenstrich.
ja, an den gedanken-schranken/macht-gestützten schlagbäumen,
die die üblichen übel für unveränderbar erklären, soll man nach kräften rütteln.
sorry für die die späte antwort, ich war 4 tage weg vom net-fenster in die welt.
....Net-Fenster bzw. Die Welt....
....da tun/tragen sich (einem/dann) be-trächtliche Ab-Gründe auf/zu!