An der Grenze

Abschweifung Wie man auf einer Veranstaltung in Strausberg die Menschenrechte sieht

Tagungsbericht. Ort der Tagung: Strausberg, seit jeher Garnisonsstadt, östlich von Berlin gelegen. Eine graue Stadt, in der die langgezogenen Wohnblöcke, die die baumbestandenen Straßen säumen, nicht nur aussehen wie Kasernen. Teilnehmer der Tagung: Ehemalige Angehörige der Grenztruppen der DDR. Dreihundert sind es bestimmt, Männer vor allem und alt sind sie. Ein ehemaliger Hauptmann der NVA gibt im formlosen Gespräch auf dem Gang die Aussage zu Protokoll, dass er selbst mit seinen vierundfünfzig Jahren vermutlich der Jüngste hier sei. Aber das ist keine Gewissheit. Nur eine Schätzung. Und es ist in diesem Bericht von großer Bedeutung, Ansichten und Gewissheiten deutlich voneinander zu trennen, und sei es auch nur bei den scheinbaren Kleinigkeiten. Allerdings kann es ja im Umgang mit der innerdeutschen Grenze, der Mauer und den Männern, die sie bewachten, keine Kleinigkeiten geben. Bewachten sie eigentlich die Mauer? Oder die Menschen dahinter? Aber das ist eine Abschweifung.

Der Gegenstand, über den hier verhandelt wird, an diesem unerfreulichen Samstagmorgen im Oktober im Strausberger Klub am See, einem kleinstädtischen Veranstaltungszentrum aus Waschbeton, Milchglas, Holzfurnier und Aluminiumprofilen, der Gegenstand also, das sind die Menschenrechte. Im Saal sitzen die alten Männer, an der Stirnwand ist überlebensgroß die Projektion einer schwarz-weißen Zeichnung zu sehen: Ein Grenzpfahl mit DDR-Wappen, ein Soldat mit Käppi und Koppel, das Fernglas umgehängt, mit stillem Selbstbewusstein nach vorne blickend, jung, vor allem jung, denkt man. Eingeladen hat die Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung e.V. - kurz GRH - zur Herbsttagung "60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte - Ihre Verwirklichung, Defizite und Verstöße in Deutschland. 15 Jahre Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung - ihr Beitrag zum Kampf gegen Missachtung von Menschenrechten in der BRD." So steht es in der Ankündigung und die ist ja schon voll von Anspielungen und Verweisen und mehrfach aufgeladenen Begriffen: Humanitäre Unterstützung, Menschenrechte, Deutschland, BRD, Kampf und Missachtung.

Den Eröffnungsvortrag hält Wolfgang Richter, ehedem Professor für Philosophie und Friedensforschung an der Humboldt Universität. Er verlor seinen Posten nach der Wende. Das ist ein wichtiger Aspekt bei seinem Vortrag. Er vergleicht die Lage der Menschenrechte in West und Ost, er spricht von "konkreten Bedingungen" unter denen "ambivalente Entscheidungen" getroffen worden seien. Und dass es "viel Unschönes auf allen Seiten" gegeben habe. Und dann gibt er einschränkend zu: "Wir hätten uns natürlich eine DDR gewünscht, in der die Bundesbürger auf der anderen Seite der Mauer angestanden hätten und massenhaft in die DDR geflüchtet wären."

Eigentlich redet er aber über die Berufsverbote in der Bundesrepublik, jenen von früher, aus der Zeit des Kalten Krieges, für die das Land von der UNO gerügt worden sei, und jenen von heute, unter denen sie alle hier litten und die eine schlimme Verletzung der Menschenrechte darstellten. Der Professor lobt die Anwesenden. Als Grenzer hätten sie den Frieden gesichert. Das oberste Menschenrecht. Und jetzt stünden sie im Kampf gegen die westliche Geschichtsretuschen.

Es sprechen nach dem Professor noch Günther Ganßauge, der am Brandenburger Tor seinerzeit Besucher empfangen hat: "Ich bin an der Grenze in Berlin seit 1952, mir macht also so schnell keiner was vor, was an der Grenze in Berlin passiert ist. Heute wird gesagt, mit dem Bau der Mauer wird die Stadt gespalten. Das ist im Prinzip ein Märchen." Und Horst Liebig, der eine Art PR-Offizier war und für das Wochenmagazin der NVA die Grenzer-Seite gemacht hat: "Kein Bürger der DDR wurde gezwungen, die Grenze illegal zu überschreiten. Die Grenzverletzer missachteten jegliche staatliche Grenzordnung, scherten sich weder um die Gesetze der DDR noch um andere Maßnahmen."

Die alten Männer im Saal hören schweigend zu. Den Kopf in die Hände gestützt. Die Worte bewegen sie nicht sichtlich. Aber man muss annehmen, dass diese Treffen, die regelmäßig stattfinden, von großer Bedeutung für sie sind. Und man stellt sich diese Reden plötzlich wie Infusionen vor, die einem Kranken einträufelt werden, der mit halb geöffneten Augen in die Vergangenheit blickt.

Der NVA-Hauptmann, der sich für den jüngsten hält, blickt auf sein Armeeleben zurück und sagt dann: "Wir haben den Frieden gesichert, mehr war da eigentlich nicht."

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Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

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