An der Staatsgrenze

Neustart In der Krise muss die Politik den Raum zurückerobern, den sie leichtfertig preisgegeben hat

Hilaire Belloc hat einmal gesagt, dass er sich ebenso ungern von der Idee des Privateigentums verabschieden würde wie von seinen Zähnen. Den meisten Menschen dürfte es ebenso gehen. Ein Systemwechsel steht darum nicht bevor. Selbst wenn der Staat künftig Bankdienstleistungen anböte, Spielzeugeisenbahnen fertigte und Unterhosen strickte: Verstaatlichung ist keine Vergesellschaftung. Es geht darum, in der Zeit der Krise auf die Folgen der Krise zu reagieren. Nicht mehr.

Je nach politischer Couleur mag man das bedauern oder nicht: Der Staat als Eigentümer würde in Deutschland nicht den Markt ersetzen. Im Gegenteil. Er würden ihn beschützen. Jürgen Rüttgers hat Anfang des Jahres die Befürchtung geäußert, dass „die industrielle Struktur Deutschlands auf lange Zeit und wahrscheinlich unwiederbringlich beschädigt“ werden könne, wenn der Staat nicht handelt. Das ist der Sinn der Maßnahmen der Bundesregierung: Institutionen vor dem Zerfall zu bewahren, die noch gebraucht werden.

Und das Prinzip ist richtig. In Maßen. Opel beispielsweise wäre der falsche Kandidat gewesen. Opel baut keine einzigartigen Autos und ist mit insgesamt 1,5 Millionen in Europa verkauften Einheiten zu klein, um zu überleben. Der Staat muss den Opel-Arbeitern den Strukturwandel erleichtern – aufhalten kann er ihn nicht. Das ist nichts Neues. Es werden in Deutschland kein Fotoapparate, keine Radios und keine Fernsehgeräte mehr hergestellt. Und wenn, dann in kleiner Serie, für teures Geld. Es war für die deutsche Industriekultur zweifellos schmerzhaft, Firmen wie Grundig, Saba und Dual sterben zu sehen. Aber Matsushita hat es besser gemacht und billiger und damit waren die Deutschen aus dem Geschäft. Es gibt im Leben für das Bestehende keine Garantie. Und der Staat sollte nicht so tun, als könne er eine solche Garantie geben. Das wäre eine Allmachtsfantasie, an der er zerbräche.

Wir müssen uns – und der Staat muss uns – die Erkenntnis zumuten, dass unser Gefühl der Sicherheit eine Illusion war. Denn es ist in diesem Winter ja nicht der Kapitalismus gescheitert. Sondern das Bild, das sich sehr viele Menschen davon gemacht haben: Dass der Kapitalismus im Ganzen eine runde Sache sei, in der sich die meisten einigermaßen bequem einrichten können. Die Langzeitarbeitslosen, die Hartz-IV- Empfänger, die ABM-Kräfte, die Zeitarbeiter, die Mindestlohnempfänger und Ein-Euro-Kräfte wissen schon länger, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Bei ihnen war die Sonne des Wohlgefühls schon untergegangen. Und jetzt sieht ein ganzes Land die Schatten näher kommen. Auch schöpferische Zerstörung ist Zerstörung.

Ja, es ist nicht einmal der Neoliberalismus, der gescheitert ist. Sondern nur die Karikatur, zu der er geworden ist. Neoliberalismus bedeutete ursprünglich nichts anderes, als dass sich die Politiker seit den späten siebziger Jahren Stück für Stück an den Gedanken gewöhnt haben, dass der Staat den Katalog seiner Zuständigkeiten überprüfen und einschränken soll. Das war eine vernünftige Idee. Auch wenn kaum ein Begriff der politischen Debatte so viel Missbehagen auslöst wie dieser. Der Neoliberalismus ist zur Ideologie geworden. Und Ideologien sind immer unvernünftig. Es war der neoliberale Fundamentalismus, der die Finanzkontrolleure blind gemacht hat. Wir zahlen mit der Krise den Preis für diese Verblendung.

Jetzt erobert sich die Politik den Raum zurück, den sie nie hätte aufgeben dürfen. Aber sie wird das mit Maß tun.

Denn was wäre Vergesellschaftung? Dass die Gesellschaft über Verteilung von Gütern entscheidet? Der Satz ist so sinnlos wie die Formulierung, die Gesellschaft zieht sich hochhackige Schuhe an. Oder die Gesellschaft geht zum Friseur. Es gibt die Gesellschaft nicht. Wenn die Gesellschaft etwas in die Hand nimmt, dann bedeutet das, dass eine Bürokratie, eine Verwaltung etwas in die Hand nimmt. Eine Institution, die nach ihren Regeln funktioniert. Und das sind nun nicht immer die Regeln und Prinzipien der Vernunft, des Gemeinwohls, des Fortschritts. Es sind oft genug die Regeln der Konfliktvermeidung und des Eigennutzes. Wie in jeder Institution. Wie in jedem Unternehmen auch. Für unternehmerische Fehlentscheidungen gibt es – üblicherweise – eine Sanktion: die Mechanismen des Markts. Das heisst den einzelnen Käufer, Kunden, Klienten. Den Menschen. Aber was ist die Sanktion der Bürokratie? Das Disziplinarrecht? Die nächste Wahl?

Es ist ein Rätsel, warum die Linke sich bei der Bürokratie besser aufgehoben fühlt als in der Privatwirtschaft, warum sie Beamten mehr traut als Unternehmern. Vernünftig wäre es, beiden zu misstrauen. Und eine angemessene Kontrolle zu gewährleisten. Das ist im Fall der Unternehmen deutlich einfacher als im Bereich der Bürokratie. Denn die Bürokatie kann die Unternehmen kontrollieren. Aber wenn die Bürokratie selber zum wirtschaftlichen Akteur wird – wer sollte dann sie kontrollieren?

Ein von Oskar Lafontaine gerne verwendetes Zitat stammt von Jean Jaques Rousseau und lautet: „Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“ Das ist sehr wahr. Und es ist in einer Gesellschaft, die den Wert der Gerechtigkeit schätzt, das beste Argument für eine politische Kontrolle wirtschaftlicher Prozesse. Aber keines für einen allmächtigen Staat.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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