Anton Hofreiter im Gespräch mit Jakob Augstein: „Grüner Pazifismus ist nicht gewaltfrei“
Interview Wie lange soll der Westen noch Waffen an die Ukraine liefern? Und wann wird mit Russland verhandelt? Grünen-Politiker Anton Hofreiter streitet mit „Freitag“-Verleger Jakob Augstein
Anton Hofreiter, am 6. Februar zu Gast bei Jakob Augstein im Literaturhaus Berlin
Foto: Philipp Plum für der Freitag
Seinen Wecker stellte sich Anton Hofreiter extra früh am Abend des 23. Februar 2022. Am nächsten Tag, um fünf Uhr morgens, las er mit Schock in den Eilmeldungen, dass der russische Angriff auf die Ukraine heftiger ausfallen würde als erwartet. Seitdem fordert der Grüne ständig neue Waffen für Kiew. Über seine Motive spricht er hier mit Jakob Augstein.
Jakob Augstein: Herr Hofreiter, Sie haben Biologie studiert und sind seit Schulzeiten Grünen-Mitglied. Wer hätte gedacht, dass Sie mal Waffenexperte werden?
Anton Hofreiter: In Deutschland haben wir eine Parlamentsarmee. Das heißt, die Einsatzbefehle erteilt der Bundestag. Als ich 2005 Abgeordneter wurde, waren die Grünen gerade aus der Regierung geflogen, da gab es wenig Orientierung.
waren die Grünen gerade aus der Regierung geflogen, da gab es wenig Orientierung. Die Frage damals: Was haltet ihr von der Afghanistan-Mission? Und weil bei Bundeswehreinsätzen namentlich abgestimmt wird, wollte ich mir das genauer ansehen. Experten haben mir gesagt, der Einsatz sei nicht sinnvoll. Aber innerhalb der Fraktion hieß es: Egal, wir müssen aus symbolischen Gründen dafürstimmen. Ich habe aber mit Nein gestimmt – gegen die Mehrheit.Waren Sie bei der Bundeswehr?Nein. Ich bin 1990 ausgemustert worden. Mein linkes Bein ist vier Zentimeter länger als das rechte.Und dann ist man nicht mehr einsatzfähig?Der Arzt hat mir zumindest gesagt: Sie können ja nicht einmal gerade stehen.Halten Sie westliche Militärinterventionen bisher für erfolgreich?Nein, überhaupt nicht. Deswegen habe ich ja gegen den Afghanistan-Einsatz gestimmt. Oder nehmen Sie Mali, da ist Search and Kill gemacht worden. Also nicht von amerikanischen Einheiten, sondern von französischen. Die haben Terroristen gejagt, weil sie dachten, wenn man deren Köpfe tötet, kriegt man den Terrorismus in den Griff. Viel zu häufig gab es dabei zivile Opfer. Aber das sind völlig andere Situationen als beim Überfall Russlands auf die Ukraine.Wieso?Weil wir da völkerrechtlich sehr eindeutige Verhältnisse haben – einen Angriffskrieg. Ein demokratisches Land wird von einer Diktatur überfallen. Da haben wir ein Land, von dem der imperialistische Staat gesagt hat, er will es kolonisieren. Russland will die ukrainische Sprache, Kultur und Selbstbestimmung zerstören.Deshalb ist der Krieg gegen Russland für Sie sinnvoll?Russland hat die Ukraine überfallen. Es geht hier darum, das Opfer gegen den Aggressor zu verteidigen. Das ist eine Frage der Solidarität. Gerade aus linker Sicht ist das geboten.Wissen Sie, wer folgenden Satz gesagt hat: „Wenn wir militärische Modelle defensiver erarbeiten, dann ist das, als würden wir Entsorgungskonzepte für die Atomindustrie beschließen“?Nein, weiß ich nicht.Petra Kelly, eine linke Grüne ...Aha.War der grüne Pazifismus ein Irrweg?Der grüne Pazifismus war nie Pazifismus in Reinform, es gab immer eine Spannung zwischen der Ablehnung jeder militärischen Gewalt und der Einsicht, dass sie manchmal unumgänglich ist.Wie sieht diese Spannung aus?Denken Sie an den Völkermord in Ruanda: Ein Großteil der getöteten Menschen wurde mit Macheten abgeschlachtet. Wahrscheinlich hätte man 1994 mit geringem militärischen Aufwand dieses Morden stoppen können. Ja, Gewaltfreiheit ist ein wichtiges Ziel – Solidarität mit den Opfern aber auch.Erinnern Sie sich an das Ergebnis, mit dem die grüne Fraktion im April 2022 über die Lieferung schwerer Waffen abstimmte?Wir haben fast alle zugestimmt.Genau. Und 75 Prozent der grünen Wähler halten die Lieferung der Leopard-Panzer für richtig. In keiner anderen Partei ist der Wert der Zustimmung so hoch. Wieso?Weil wir als linke Partei auch die Betroffenen fragen, was sie wollen. Und die Ukrainer wünschen sich mit überragender Mehrheit, dass man ihnen hilft, sich zu wehren. Deswegen gibt es bei der ukrainischen Armee auch eine queere Kompanie, die kämpfen mit regenbogenfarbenem Einhorn auf dem Patch. Sie wissen, in Putins Russland wird es sehr hässlich für sie.2018 haben Sie ein Rüstungsexportkontrollgesetz gefordert, damit sich die deutsche Bundesregierung nicht weiter schuldig macht, wenn Konflikte irgendwo auf der Welt eskalieren.Ich finde dieses Gesetz immer noch notwendig. Es war ein Fehler, dass wir – übrigens auf Druck der SPD – zugestimmt haben, Flugzeug-Ersatzteile nach Saudi-Arabien zu liefern. Wir sollten ja auch dem Jemen keine Waffen liefern.Wenn es ein solches Gesetz gäbe, dürften wir dann überhaupt Waffen an die Ukraine liefern?Ja. Der Fall ist völkerrechtlich einwandfrei. Es muss erlaubt sein, die Ukraine in ihrem Recht auf Selbstverteidigung zu unterstützen.Aber müssen wir dann nicht in allen künftigen Kriegen jenen Parteien Waffen liefern, mit denen wir sympathisieren?Wie viele solcher Fälle hatten wir denn seit dem Zweiten Weltkrieg? Wo eine Diktatur eine Demokratie überfallen hat und das völkerrechtlich so klar war? In den letzten Jahrzehnten hatten wir hochkomplexe Konflikte, häufig Bürgerkriege, wo alle Konfliktparteien auch Täter waren – und die Zivilbevölkerung das einzige Opfer.Haben Sie Beispiele?Nehmen Sie den Bürgerkrieg in Äthiopien, zwischen der Zentralregierung auf der einen Seite und den Rebellen in Tigray auf der anderen. Da sind bis zu einer halben Million Menschen gestorben. An wen hätte man da Waffen liefern sollen? An die Regierung, die vom diktatorischen Eritrea unterstützt wird? An die brutalen Rebellen?Sie haben im Januar gesagt, wir müssten die Ukraine mit allem unterstützen, was sie auf dem Schlachtfeld braucht. Kiew entscheidet also, was wir liefern?Wir liefern in Absprache mit unseren Verbündeten. Da bin ich sehr auf der Seite von Olaf Scholz.Aber was denn alles? Raketen, Flugzeuge, U-Boote, Panzer – einfach alles, was der ukrainische Präsident Selenskyj will?Nein. Wir entscheiden, was unserer Meinung nach sinnvoll ist.Ich stelle diese Frage deshalb so präzise, weil das Abwägen der Worte bei diesem Thema wichtig ist. Deswegen war es auch so misslich, dass Annalena Baerbock in Straßburg gesagt hat, wir führen einen Krieg mit Russland.Das war ein Fehler von ihr. Aber man sollte ihr nicht die Worte im Mund umdrehen: Was wollte sie in dieser Ansprache deutlich machen? Dass wir im Konflikt mit Russland sind, nicht untereinander. Das Wort „Krieg“ war falsch, ja.Unterstützen wir die Ukraine Ihrer Meinung nach genug?Nein! Sonst wäre die Ukraine gerade nicht in so großen militärischen Schwierigkeiten. Und sonst wäre die Gefahr nicht so groß, dass die Frühjahrsoffensive der russischen Armee erfolgreich ist.Sollten wir Flugzeuge liefern?Das ist eine irrelevante Frage, weil wir keine Flugzeuge haben, die wir sinnvollerweise liefern können. Da hat Deutschland ausnahmsweise Glück. Aber ich halte von diesem Rauf-und-runter-Diskutieren von Waffensystemen nichts.Ihre Außenministerin hält sehr viel davon ...Dazu wurde man auch gezwungen, weil vieles zu zögerlich lief.Es gibt auf der Internetseite des Bundesverteidigungsministeriums eine beeindruckend lange Liste, auf der steht, was wir liefern. Der Gesamtwert beläuft sich auf 2,4 Milliarden Euro. Wir machen so viel wie Großbritannien und Frankreich zusammen. Nur die USA liefern mehr. Und das soll nicht reichen?Ja. Weil es leider objektiv nicht reicht.Was sollen wir noch machen?Wir haben jetzt ein Dreivierteljahr darüber diskutiert, ob wir diese Kampfpanzer liefern oder nicht. Musste das so lange dauern? Wir sind das mit Abstand größte und mächtigste Land in der EU. Wegen unserer Zögerlichkeit ist die Ukraine in militärischen Schwierigkeiten, und Putin wurde in der Überzeugung bestärkt, dass es sich lohnt, den Krieg fortzusetzen.Warum hat Russland die Ukraine Ihrer Meinung nach angegriffen?Ich glaube, dafür gibt es zwei zentrale Gründe. Erstens: Putin will große Teile des russischen Imperiums wiedererrichten. Er hat den Zusammenbruch der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Und wir wissen, was im 20. Jahrhundert noch alles passiert ist! Zweitens: Er wollte die Ukraine davon abhalten, ihren Weg in Richtung EU, Wohlstand und weniger Korruption weiterzugehen. Putins Geschichte war ja immer: Ihr habt vielleicht nicht so viel Meinungsfreiheit wie die Briten oder die Franzosen, und ja, das ist schon ein autokratisches System. Aber schaut mal, bei uns in Russland, da braucht es einen starken Mann! Erinnert euch, wie schrecklich es unter Jelzin war! Aber wäre nebenan ein Land demokratischer und wohlhabender geworden, hätte diese – seine – Geschichte nicht mehr gezogen.Kennen Sie Zbigniew Brzeziński und George F. Kennan? Das waren zwei knallharte amerikanische Realpolitiker, keine Peaceniks. Die haben – der eine in den 1940ern, der andere in den 1980ern – gesagt, dass Russland eine unabhängige Ukraine niemals dulden wird. Der Westen – und die Ukraine – hätte also gewarnt sein können.Ich halte das für einen zynischen Blick auf Russland, der in den USA eigentlich nicht sehr verbreitet ist.Zynischer, als Sie Putin beschrieben haben, ist das auch nicht.Es ist eine Täter-Opfer-Umkehr, weil Sie implizieren, dass die Ukraine diesen Krieg durch ihren Weg nach Westen provoziert hat.Wir sprechen immer von Putins Krieg. Aber der These von Brzeziński und Kennan folgend, hätte jeder russische Präsident über kurz oder lang die Ukraine angegriffen, wenn sie sich zu weit aus dem russischen Einflussbereich entfernt hätte.Da blicken Sie deutlich zu zynisch auf Russland. Sie übernehmen die These, dass es ein unvermeidlich imperialistischer Staat ist. Egal, wer in diesem Staat regiert und unter welchen Bedingungen, er kann gar nicht anders, als seinen Nachbarn zu überfallen? Das wäre, als würde man behaupten, Großbritannien hätte nie anders gekonnt, als Indien zu kolonisieren.Wie wird dieser Krieg enden?Das hängt, unter anderem, von unserem Handeln ab: Je klarer wir signalisieren, dass wir die Ukraine auch über einen längeren Zeitraum unterstützen werden, desto schneller kommt der Punkt, an dem das Putin-Regime erkennt, dass sich die Fortsetzung des Krieges nicht lohnt – und verhandelt.Sie benutzen locker das Wort „Verhandlungen“, darf man das noch? Gerade hat der grüne Parteivorsitzende Nouripour den SPD-Fraktionschef Mützenich getadelt, weil der sich für Verhandlungen mit Russland aussprach.Die Frage ist, wer die Verhandlungen führt, und das muss die Ukraine sein. Aber natürlich sind Verhandlungen unser Ziel.Haben wir Putin jemals aufgefordert, zu verhandeln?Er wird ständig aufgefordert, zu verhandeln!Nein. Er wird aufgefordert, aus der Ukraine abzuziehen.Natürlich. Das ist eine der Bedingungen, die man dem Aggressor stellen muss für Verhandlungen.Das nennt man dann aber nicht Verhandeln. Worüber soll denn dann noch verhandelt werden?Es gibt sehr vieles zu verhandeln.Wenn er abgezogen ist ...?Ja. Dann kann man zum Beispiel verhandeln, welche Sicherheitsgarantien es gibt, damit der Konflikt nicht noch mal aufflammt. Putin hat ja – fälschlicherweise! – behauptet, dass er die Ukraine überfallen musste, weil Kiew die Sicherheit seines Landes bedroht. Darüber kann man reden. Aber die Bedingung für solche Gespräche muss sein, dass die Ukraine jene Gebiete kontrolliert, die sie vor dem 24. Februar innehatte. Sonst kann es keinen Frieden geben.US-Generalstabschef Mark Milley hat im November der Ukraine einen Verhandlungsfrieden empfohlen. Weil die Fronten sich nicht weiter verschieben würden. Er hat an den Ersten Weltkrieg erinnert: Auch damals hätten die Kriegsparteien den Zeitpunkt für einen Friedensschluss verpasst, viele unnötige Opfer seien die Folge gewesen. Verstehen Sie diesen Vergleich?Nein, ich kann das nicht nachvollziehen. Im September wurde Charkiw befreit. Wo ändert sich denn nichts? Am Ende liegt es auch bei uns, ob Milleys Szenario der eingefrorenen Front eintritt – oder nicht. Wenn wir die Ukraine nicht stärker unterstützen, dann tritt es ein. Wenn wir sie stärker unterstützen, dann nicht. Da wirken ja keine Naturgesetze.Placeholder infobox-1