Großbritannien, die fünftgrößte Volkswirtschaft der Erde, eine der ältesten Demokratien, das Königreich der freundlich winkenden Elisabeth II, Atommacht, Mitglied im UN-Sicherheitsrat, hat sich kopfüber von der Klippe gestürzt. Einfach so. Und befindet sich jetzt im freien Fall. Nach dem Referendum vom 23. Juni stellen wir fassungslos fest: Es gab keinen Plan. Keinen Plan B oder C und Plan A sowieso nicht.
Es ist schlimm, dass Großbritannien die EU verlassen will. Es ist schlimm, welcher Schindluder mit Referenden getrieben werden kann. Es ist schlimm, dass Europa in einer Krise der Rechtfertigung steckt. Aber am schlimmsten ist die Erkenntnis, dass ein ganzes Land sich der mutwilligen Selbstbeschädigung aussetzt, ohne dass die politischen Eliten, die Medien, das Wahlvolk sich wirklich im Klaren über den Einsatz waren. Wenn es Großbritannien treffen kann, kann es jeden treffen. Das Vertrauen in moderne Politik als halbwegs berechenbares System ist erschüttert.
Historische Wendemarke
Andauernd vollzieht sich Geschichte. Sie bewegt sich im Untergrund der Ereignisse. Aber nur selten sind wir Lebenden in der Lage, ihr Wirken unmittelbar zu erkennen. Heute können wir sagen: Der 23. Juni ist eine historische Wendemarke. Es enden nicht nur 43 Jahre britische Mitgliedschaft in der EU. Es endet eine besondere Idee von Europas Zukunft. Für die Briten wird diese Entscheidung vermutlich zum Desaster werden. Für Europa birgt sie auch Chancen.
Es sind lächerliche Figuren, die da mit der Zukunft eines Staates und eines Kontinents gespielt haben: David Cameron, Boris Johnson, Nigel Farage. Das Rad, das sie gedreht haben, war ihnen zu groß. Cameron, der Premierminister, der das Schicksal seines Landes für seine politische Zukunft aufs Spiel gesetzt hat, und beides verlor – ein Hazardeur. Johnson, der ohne eigene Überzeugung, nur aus Geltungssucht auf eine Bewegung aufsprang, die ihm dann entglitt. Farage, ein Volkstribun und skrupelloser Lügner. Sie haben die Sache betrieben wie ein Spiel. Das Ergebnis hat sie alle überrascht. So schnell, wie die Brexiteers jetzt zurückrudern wollen, geht es sonst nur auf der Themse zu, wenn die Rudermannschaften von Oxford und Cambridge gegeneinander antreten.
Aber es ist zu spät. Da kann Boris Johnson noch so eindringlich versuchen, seine Wähler zu beruhigen: Es werde alles nicht so schlimm werden, man werde auch künftig den vollen Zugang zum gemeinsamen Markt haben, ohne aber dessen Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Die EU wird den Briten keine Geschenke machen. Brüssel und Berlin haben mit warmem Herzen und offener Hand um die Briten geworben. Nun weht der Wind deutlich kühler. Und da kann das Remain-Lager noch so viele Stimmen für ein zweites Referendum sammeln. Wer glaubt im Ernst, eine solche Entscheidung, so knapp sie auch ausgefallen ist, lasse sich zurücknehmen?
Im britischen Guardian fand sich ein Szenario, an das sich manche Brexit-Gegner jetzt klammern. Danach könnte der Sieger Boris Johnson sich in Wahrheit als der Verlierer herausstellen. David Cameron habe durch seinen raschen Rücktritt den Brexiteers den Triumph vermasselt. Cameron hatte vor dem Referendum immer gesagt, dass er den Artikel 50 des EU-Vertrages, der den Austritt regelt, sofort auslösen würde, wenn das Referendum entsprechend ausfalle. Stattdessen trat er aber zurück. Die Aufgabe, den Austritt zu beantragen und durchzuführen, überlässt er seinem Nachfolger.
Bis zum Herbst, wenn ein neuer Premierminister den Austrittsantrag stellen kann, haben die Briten Zeit über die verheerenden Folgen dieser Entscheidung nachzudenken: die Märkte, das Pfund, der Nordirland-Konflikt, Schottland, Gibraltar, der Grenzpunkt Calais, und dann natürlich die Frage, wie man einerseits das Brexit-Versprechen hält, keine Ausländer mehr ins Land zu lassen und gleichzeitig am gemeinsamen europäischen Markt teilnimmt, zu dessen Voraussetzungen aber die Freiheit der Bewegung gehört. Was für ein Albtraum. Kein neuer Tory-Chef, so das Kalkül, wird sich das ans Bein binden wollen. Zumal das Parlament mehrheitlich gegen den Brexit ist.
Aber da machen die Briten die Rechnung ohne Europa. Angela Merkel mag jetzt noch vor zu großer Hast warnen. Aber weder Brüssel noch Berlin werden Lust haben, an der langen Leine englischer Launen durchs Dorf geführt zu werden.
Wir lernen aus dem Brexit, dass offenbar Missverständnisse über das Wesen der Demokratie herrschen. Horst Seehofer sagt, Referenden sind „der Kern moderner Politik“. Wenn er Recht hat, bedeutet das das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen. Nicht jede Entscheidung des Souveräns ist eine souveräne Entscheidung. Das Maß an Demokratie steigt nicht automatisch mit der Zahl der zur Abstimmung vorgelegten Fragen.
Europa hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit gutem Grund nicht für die direkte Demokratie entschieden, sondern für die repräsentative. Die Antwort auf den Zweiten Weltkrieg, auf die Erfahrung des Totalitarismus lautete keineswegs einfach mehr Beteiligung der Bürger. Im Gegenteil. Die Demokratie wurde an die Leine gelegt: Sie wurde institutionell eingehegt. Jene Institutionen, die in der Bundesrepublik nach dem Krieg über das größte Vertrauen verfügten, waren ausdrücklich nicht demokratisch legitimiert: Bundesbank und Verfassungsgericht. Das Volk beschwert sich immer mal wieder darüber, dass es so selten zu Wort kommt. Richtig. Aber das ist Absicht.
Wechselfälle des Populismus
Referenden müssen der Ausnahmefall der Demokratie sein. Als Alexis Tsipras vor einem Jahr sein Volk über das Euro-Rettungspaket abstimmen ließ, befand sich Griechenland in einer politischen und wirtschaftlichen Notlage. Das Referendum hat in einer buchstäblich überlebenswichtigen Frage die Regierung mit neuer Legitimation versorgt. Aber das war nicht die Lage am 23. Juni. Da hat sich Großbritannien mutwillig und ohne Not den Wechselfällen des Populismus ausgeliefert. Und die hochgelobte politische Kultur des Königreichs war kein Schutz – im Gegenteil: Viel zu viele Insel-Medien überboten sich gegenseitig mit Lügen und Übertreibungen. Dass die Türkei demnächst EU-Mitglied werde, dass dann Hunderttausende auf die Insel kommen würden, dass Großbritannien dagegen machtlos sei – das galt als ausgemachte Sache. Es ist ein Stück politischer Folklore, dass die Briten ein besonders enges Verhältnis zur Vernunft haben. Margaret Thatcher, seit Churchill die bedeutendste britische Premierministerin, war eine freie Radikale.
Großbritannien wird an den Verheerungen, die der 23. Juni nach sich ziehen wird, Jahrzehnte leiden. Aber für Europa kann es ein guter Tag gewesen sein. Die Gemeinschaft ist jetzt gezwungen, sich ihrer Lebenslüge zu stellen. Das „demokratische Defizit“, seit Jahren beklagt, ist real und es bricht auf. Die Entfremdung zwischen „Brüssel“ und dem Rest wird schmerzlich spürbar. Wir erleben eine Krise der politischen Repräsentation. Die Antwort ist eine revolutionäre Situation, wie seinerzeit 1968. Diesmal kommt die Gegenbewegung nicht von links.
Als Träumer wird jetzt verlacht, wer nach dem Brexit mehr Europa fordert. Aber an mehr Europa führt kein Weg vorbei. Wohlgemerkt, nicht mehr Bürokratie, sondern mehr – repräsentative – Demokratie. Die Klagen der Brexiteers waren nicht alle falsch. Ihre Antworten sind es. Europa braucht nicht mehr Nationalstaat, es braucht mehr demokratische Verantwortung. Ein direkt und unmittelbar vom europäischen Volk gewähltes Parlament muss eine europäische Regierung einsetzen. Die Staaten müssen ihre Vertreter in eine zweite Kammer entsenden. Die europäische Föderation muss sich nicht um alles kümmern – Stichwort Subsidiarität. Aber wenn sie sich kümmert, muss das Prinzip der demokratischen Verantwortlichkeit gewährleistet sein. Die große Mehrheit der Europäer will weder das Europa der Konzerne noch das der Populisten. Sondern ein Europa der Demokratie.
Kommentare 7
Es ist NICHT schlimm, dass Wähler wählen.
Und wenn das Ergebnis anders ausfällt, als gewünscht gilt das weiterhin.
Um Himmleswillen! Ein Land tritt aus der EU aus. Das ist doch kein Klippensprung. Das kommt auch nicht aus dem Nichts. Eine Mehrheit der Briten wollten das so und konnten ihren Willen auch demokratisch äussern. Nicht mehr und nicht weniger. Ich wünsche ihnen viel Glück auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.
Ich bin klar für mehr Referenden. Ich glaube fest, die Welt würde ein Stück besser werden.
"politischen Eliten" als sogenannte wäre angebrachter.
Nach, wie vor ist das Referendum zum BrExit in GB für das Parlament nicht bindend. Im Laufe der Austrittsverhandlungen kann sich das Parlament immer noch besinnen und den ganzen Schwindel stoppen.
Schottland will im Falle eines BrExit in der EU bleiben, also aus GB austreten. In Nordirland verläuft die Grenze zwischen befürwortern und Gegnern entlang der alten Feindschaften. Die Mehrheit will in der EU bleiben - und darum halten in Nordirland im Moment alle die Luft an.
Soweit GB, eigentlich ist das eine Krise der gesamten EU, denn wenn GB auseinander bröckelt, ist der Zerfall der restlichen EU nur noch eine Frage der Zeit.
Mamma Dilemma mag drängen, um "reinen Tisch" zu haben; letztendlich fällt ihr der übereilt zusammengestrickte Lissabon Vertrag auf die Füße, der die mißglückte EU-Verfassung ersetzen sollte. Nicht zu vergessen die EURO-Baustelle, an der unsere Enkel noch zu beißen haben werden.
Lieber Jakob Augstein, warum liegen Sie in der Frage der Bevölkerungs-Referenden nur so falsch liegen ? Vergessen Sie bei der Brexit-Diskussion bitte nicht TTIP, CETA und TISA. Würden die Briten ( bzw. genauer die Engländer ) in der EU bleiben, wä#ren auch Sie Opfer der Entdemokratisierung durch TTIP und CETA geworden Bisher haben wir eine Deomkratie für die obersten 10%. Nach CETA und TTIP werden wir eine Demokratie für die obersten 1 % haben, weil die Parlamente an einer noch kürzeren (atlantischen) Leine gehalten werden. Die Briten werden ( mit Berechtigung) darauf verweisen und bestehen,dass auch Sie dieselben Vertragsbedingungen ( nach Art 50 AEV) erhalten möchten wie Kanada ( Commonwealth) in CETA. D.h. Zugang zum EU-Markt und "privilegierte" Einbeziehung in EU-Gesetzgebung und Sonder-Gerichtsbarkeit ohne unbegrenten Personenverkehr . Die Briten waren sehr klug, für den Brexit zu stimmen. ( überwiegende Schwarmintelligenz ). Und falls es mit TTIP und CETA nichts wird, dann kann der CETA-Vertrag ja als Blaupause für Brex-in als trojanisches Pferd für US-in und Commonwealth-in werden. Diese Verträge könnten auch für eine Neukonstruktion der EU dienen, wenn die Mitgliedsstaaten merken, dass die EU auf dieser (verbindlichen) Staats-vertragsebene besser funktionieren wird - ohne eine Möchtegern-EU--Regierung in Form der EU-Kommission, die jedes Detail regeln will. Und das EU-Parlament könnte für Richtungs-Resoluntions-Entscheidungs-Gremium erhalten bleiben, aber nicht mit Berufs-EU-Parlamentariern, sondern zusammengesetzt aus delegierten Länderparlamentariern nach den bekannten Länderquoten ( vielleicht zweimal pro Jahr) Dadurch würde man die überflüssigen Ausgaben für diese EU-Bürokraten und Berufspolitiker sparen
Die rein repräsentative Demokratie ist das vernünftige Model von gestern.
Ihre Argumentation erscheint mir einfach nicht schlüssig. Sie beschreiben die demokratisch gewählten Repräsentanten als eigensüchtig und verlogen und fordern dennoch die rein repräsentative Demokratie?
Sie schreiben: „Da hat sich Großbritannien mutwillig und ohne Not den Wechselfällen des Populismus ausgeliefert.“ Großbritannien hat sich ausgeliefert? Die repräsentativ gewählte britische Regierung hat eine Volksbefragung „Kraft Amtes“ ausgelöst. Diese Möglichkeit gibt es aus gutem Grund in der direktdemokratischen Schweiz erst gar nicht. Referenden „von oben nach unten“ bleiben Mittel von Diktatoren, wenn sie nicht von einem gleichberechtigten Initiativrecht des Souveräns eingehegt sind. Und natürlich kann der Souverän irren. Wir sind Menschen. Wir dürfen irren. Politiker tun dies oft genug in unserem Namen. Wenn aber unsere Informationen von „ skrupellosen Lügnern“ kommen und diese von privaten, eigennützigen Medien verbreitet werden, dann hat der Souverän wirklich ein Problem, denn er hat lange genug geschlafen und sollte allmählich etwas ändern. Dies sollte er aber bitte nicht diesen „geltungssüchtigen Hazardeuren“ überlassen, sondern es selbst in die Hand nehmen.
Die Menschen in Großbritannien haben sich tatsächlich von ihren Vertretern überrumpeln lassen, denn die Frage, „Wollt ihr in der EU bleiben, ja oder nein?“ war ja bereits die Unverschämtheit. Die Frage die allmählich gestellt werden muss ist doch: Welche EU wollen wir? Kein Mensch in Europa will ein dermaßen undemokratisch organisiertes Gemeinwesen. Wer will denn in einem zentralistischen System von „Experten und Eliten“ repräsentativ regiert werden, deren Eigennutz immer unverschämter wird. Die mächtige europäische Kommission wird nicht einmal von Wählern oder Parlamenten legitimiert, sondern ohne Transparenz in den berühmten Hinterzimmern ausgekungelt. Die Bevölkerung eines jeden Landes würde sich wahrscheinlich gegen diese EU entscheiden.
Ich denke die Menschen in England haben jetzt schon einiges gelernt. Ein zweites Mal würden sie sich wohl nicht mehr mit einem Referendum so naiv überrumpeln lassen. Die direkte Demokratie ist auch eine Bewußtseinsschulung, denn man übernimmt direkt Verantwortung und kann nicht mehr über unfähige Repräsentanten schimpfen.
Sie schreiben weiter: „Europa hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit gutem Grund nicht für die direkte Demokratie entschieden, sondern für die repräsentative.“
Wer in diesem Gedankengang ist denn da Europa und wer hat entschieden? Wer wurde denn da von wem legitimiert und hatte so das Recht zu entscheiden, wer in Zukunft Entscheidungen treffen darf?
„Wer entscheidet, wer entscheidet?“ ist ab jetzt die Frage der Zukunft.
Der wachsende Wunsch nach direkter Demokratie ist doch Folge unserer zunehmenden Individualisierung. Es entsteht ein Bewusstsein, dass sein Recht auf Selbstbestimmung und direkte Mitgestaltung einfordert. Wir sind schöpferische Wesen und wir wollen Verantwortung übernehmen, für unser eigenes Leben und auch für unser Gemeinwesen. Unser innigstes Menschsein ist damit verknüpft.
Das entscheidende Licht von Europa werden wir alle gemeinsam ausstrahlen und es hängt von den zukünftigen, direktdemokratischen Beteiligungsmöglichkeiten ab, die wir selbst gestalten. Jeder Mensch soll sich gleichberechtigt und eigenverantwortlich einbringen können.
Repräsentanten wird es auch weiterhin geben, aber die rein repräsentative Demokratie ist jetzt schon von gestern. Der Souverän hat in Zukunft immer das letzte Wort.
Herr Augstein verwechselt – absichtlich oder aus Unkenntnis – direkte Demokratie mit (unverbindlichen) Volksbefragungen.
Davon abgesehen muss Europa selbstverständlich – sowohl direkt als auch repräsentativ – demokratisch reformiert werden. Dazu braucht es u.a. einen demokratisch gewählten Verfassungskonvent, ein echtes Parlament (mit Initiativrecht und Budgethoheit), eine zweite Kammer (»Senat«) für Vertreter der Regionen, ein verpflichtendes Lobbyregister, ein Informationsfreiheitsgesetz und natürlich europaweite Volksabstimmungen.
https://www.democracy-international.org/de/eu-reform
Sicher ist Representation unverzichtbar, aber (kluge & gut gemachte) Referenden können für die Arbeit der Representation und der Eliten entscheidende Dispositionen treffen, - dies besonders, wenn die R- & E-Sphären scheinbar nicht mehr über hinreichende oder - in den Augen von Mehrheiten - falsche "Dispositive", (die bloßen Skelettknochen, die Struktur eines Fachwerkhauses, das vom Positiven (Ganzen) entkleidete: Dis-Positiv, die Fließbahnen der Kräfte usw.) verfügen, um nachvollziehbare, oder zumindest konveniente Politik daraus folgen zu lassen.
Weder die Brexit-Sache, - nicht zwangsläufig ein Klippensprung -, mit seiner IRREN Propaganda/Desinfo, noch das OXI nach dem Motto "Wascht uns den Pelz, aber macht uns nicht naß", erfüllen die Kriterien guter Referenden.