Bittere Lektionen

Brexit Es herrschen offenbar Missverständnisse über das Wesen der Demokratie. Nicht jede Entscheidung des Souveräns ist eine souveräne Entscheidung
Ausgabe 26/2016

Großbritannien, die fünftgrößte Volkswirtschaft der Erde, eine der ältesten Demokratien, das Königreich der freundlich winkenden Elisabeth II, Atommacht, Mitglied im UN-Sicherheitsrat, hat sich kopfüber von der Klippe gestürzt. Einfach so. Und befindet sich jetzt im freien Fall. Nach dem Referendum vom 23. Juni stellen wir fassungslos fest: Es gab keinen Plan. Keinen Plan B oder C und Plan A sowieso nicht.

Es ist schlimm, dass Großbritannien die EU verlassen will. Es ist schlimm, welcher Schindluder mit Referenden getrieben werden kann. Es ist schlimm, dass Europa in einer Krise der Rechtfertigung steckt. Aber am schlimmsten ist die Erkenntnis, dass ein ganzes Land sich der mutwilligen Selbstbeschädigung aussetzt, ohne dass die politischen Eliten, die Medien, das Wahlvolk sich wirklich im Klaren über den Einsatz waren. Wenn es Großbritannien treffen kann, kann es jeden treffen. Das Vertrauen in moderne Politik als halbwegs berechenbares System ist erschüttert.

Historische Wendemarke

Andauernd vollzieht sich Geschichte. Sie bewegt sich im Untergrund der Ereignisse. Aber nur selten sind wir Lebenden in der Lage, ihr Wirken unmittelbar zu erkennen. Heute können wir sagen: Der 23. Juni ist eine historische Wendemarke. Es enden nicht nur 43 Jahre britische Mitgliedschaft in der EU. Es endet eine besondere Idee von Europas Zukunft. Für die Briten wird diese Entscheidung vermutlich zum Desaster werden. Für Europa birgt sie auch Chancen.

Es sind lächerliche Figuren, die da mit der Zukunft eines Staates und eines Kontinents gespielt haben: David Cameron, Boris Johnson, Nigel Farage. Das Rad, das sie gedreht haben, war ihnen zu groß. Cameron, der Premierminister, der das Schicksal seines Landes für seine politische Zukunft aufs Spiel gesetzt hat, und beides verlor – ein Hazardeur. Johnson, der ohne eigene Überzeugung, nur aus Geltungssucht auf eine Bewegung aufsprang, die ihm dann entglitt. Farage, ein Volkstribun und skrupelloser Lügner. Sie haben die Sache betrieben wie ein Spiel. Das Ergebnis hat sie alle überrascht. So schnell, wie die Brexiteers jetzt zurückrudern wollen, geht es sonst nur auf der Themse zu, wenn die Rudermannschaften von Oxford und Cambridge gegeneinander antreten.

Aber es ist zu spät. Da kann Boris Johnson noch so eindringlich versuchen, seine Wähler zu beruhigen: Es werde alles nicht so schlimm werden, man werde auch künftig den vollen Zugang zum gemeinsamen Markt haben, ohne aber dessen Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Die EU wird den Briten keine Geschenke machen. Brüssel und Berlin haben mit warmem Herzen und offener Hand um die Briten geworben. Nun weht der Wind deutlich kühler. Und da kann das Remain-Lager noch so viele Stimmen für ein zweites Referendum sammeln. Wer glaubt im Ernst, eine solche Entscheidung, so knapp sie auch ausgefallen ist, lasse sich zurücknehmen?

Im britischen Guardian fand sich ein Szenario, an das sich manche Brexit-Gegner jetzt klammern. Danach könnte der Sieger Boris Johnson sich in Wahrheit als der Verlierer herausstellen. David Cameron habe durch seinen raschen Rücktritt den Brexiteers den Triumph vermasselt. Cameron hatte vor dem Referendum immer gesagt, dass er den Artikel 50 des EU-Vertrages, der den Austritt regelt, sofort auslösen würde, wenn das Referendum entsprechend ausfalle. Stattdessen trat er aber zurück. Die Aufgabe, den Austritt zu beantragen und durchzuführen, überlässt er seinem Nachfolger.

Bis zum Herbst, wenn ein neuer Premierminister den Austrittsantrag stellen kann, haben die Briten Zeit über die verheerenden Folgen dieser Entscheidung nachzudenken: die Märkte, das Pfund, der Nordirland-Konflikt, Schottland, Gibraltar, der Grenzpunkt Calais, und dann natürlich die Frage, wie man einerseits das Brexit-Versprechen hält, keine Ausländer mehr ins Land zu lassen und gleichzeitig am gemeinsamen europäischen Markt teilnimmt, zu dessen Voraussetzungen aber die Freiheit der Bewegung gehört. Was für ein Albtraum. Kein neuer Tory-Chef, so das Kalkül, wird sich das ans Bein binden wollen. Zumal das Parlament mehrheitlich gegen den Brexit ist.

Aber da machen die Briten die Rechnung ohne Europa. Angela Merkel mag jetzt noch vor zu großer Hast warnen. Aber weder Brüssel noch Berlin werden Lust haben, an der langen Leine englischer Launen durchs Dorf geführt zu werden.

Wir lernen aus dem Brexit, dass offenbar Missverständnisse über das Wesen der Demokratie herrschen. Horst Seehofer sagt, Referenden sind „der Kern moderner Politik“. Wenn er Recht hat, bedeutet das das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen. Nicht jede Entscheidung des Souveräns ist eine souveräne Entscheidung. Das Maß an Demokratie steigt nicht automatisch mit der Zahl der zur Abstimmung vorgelegten Fragen.

Europa hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit gutem Grund nicht für die direkte Demokratie entschieden, sondern für die repräsentative. Die Antwort auf den Zweiten Weltkrieg, auf die Erfahrung des Totalitarismus lautete keineswegs einfach mehr Beteiligung der Bürger. Im Gegenteil. Die Demokratie wurde an die Leine gelegt: Sie wurde institutionell eingehegt. Jene Institutionen, die in der Bundesrepublik nach dem Krieg über das größte Vertrauen verfügten, waren ausdrücklich nicht demokratisch legitimiert: Bundesbank und Verfassungsgericht. Das Volk beschwert sich immer mal wieder darüber, dass es so selten zu Wort kommt. Richtig. Aber das ist Absicht.

Wechselfälle des Populismus

Referenden müssen der Ausnahmefall der Demokratie sein. Als Alexis Tsipras vor einem Jahr sein Volk über das Euro-Rettungspaket abstimmen ließ, befand sich Griechenland in einer politischen und wirtschaftlichen Notlage. Das Referendum hat in einer buchstäblich überlebenswichtigen Frage die Regierung mit neuer Legitimation versorgt. Aber das war nicht die Lage am 23. Juni. Da hat sich Großbritannien mutwillig und ohne Not den Wechselfällen des Populismus ausgeliefert. Und die hochgelobte politische Kultur des Königreichs war kein Schutz – im Gegenteil: Viel zu viele Insel-Medien überboten sich gegenseitig mit Lügen und Übertreibungen. Dass die Türkei demnächst EU-Mitglied werde, dass dann Hunderttausende auf die Insel kommen würden, dass Großbritannien dagegen machtlos sei – das galt als ausgemachte Sache. Es ist ein Stück politischer Folklore, dass die Briten ein besonders enges Verhältnis zur Vernunft haben. Margaret Thatcher, seit Churchill die bedeutendste britische Premierministerin, war eine freie Radikale.

Großbritannien wird an den Verheerungen, die der 23. Juni nach sich ziehen wird, Jahrzehnte leiden. Aber für Europa kann es ein guter Tag gewesen sein. Die Gemeinschaft ist jetzt gezwungen, sich ihrer Lebenslüge zu stellen. Das „demokratische Defizit“, seit Jahren beklagt, ist real und es bricht auf. Die Entfremdung zwischen „Brüssel“ und dem Rest wird schmerzlich spürbar. Wir erleben eine Krise der politischen Repräsentation. Die Antwort ist eine revolutionäre Situation, wie seinerzeit 1968. Diesmal kommt die Gegenbewegung nicht von links.

Als Träumer wird jetzt verlacht, wer nach dem Brexit mehr Europa fordert. Aber an mehr Europa führt kein Weg vorbei. Wohlgemerkt, nicht mehr Bürokratie, sondern mehr – repräsentative – Demokratie. Die Klagen der Brexiteers waren nicht alle falsch. Ihre Antworten sind es. Europa braucht nicht mehr Nationalstaat, es braucht mehr demokratische Verantwortung. Ein direkt und unmittelbar vom europäischen Volk gewähltes Parlament muss eine europäische Regierung einsetzen. Die Staaten müssen ihre Vertreter in eine zweite Kammer entsenden. Die europäische Föderation muss sich nicht um alles kümmern – Stichwort Subsidiarität. Aber wenn sie sich kümmert, muss das Prinzip der demokratischen Verantwortlichkeit gewährleistet sein. Die große Mehrheit der Europäer will weder das Europa der Konzerne noch das der Populisten. Sondern ein Europa der Demokratie.

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