Dass Osama bin Laden lebend gefasst würde, dass man ihm den Prozess machen würde, dass er wie einst Rudolf Heß in Spandau als letzter Gefangener in Guantánamo sitzen würde – wer hatte das im Ernst erwartet? Ein Revolutionär endet nicht als Rentner. Und Osama bin Laden war ja ein Revolutionär, wenn auch einer des Bösen. Seine Revolution hat Verheerungen ausgelöst, die weit über die Toten der Al-Qaida-Anschläge hinausgehen. Und es ist verzweiflungsvoll, dass dieser Mann über seinen Tod hinaus noch ein Sieger ist.
Der Terrorist trägt seinen inneren Schrecken nach außen. Der Selbstmordattentäter ist die schreckliche Vervollkommnung dieses Prinzips. Wenn das Selbst ganz vernichtet ist, geht mit der Achtung vor dem eigenen Leben auch die Achtung des anderen Lebens verloren. Es gibt dagegen kein Mittel der Abwehr. Indem er das Regulativ der Selbsterhaltung ausschaltet, macht sich der Ohnmächtige mächtig. Gegen solche Attentäter lässt sich kein Krieg führen. Nur Frieden. Aber darin hat der Westen versagt. Der Sieg Osama bin Ladens liegt darin, dass er dem Westen sein eigenes, dunkles Spiegelbild gezeigt hat.
Böse gegen Böse
Im Oktober 2001 schrieb Arundhati Roy, dass Osama bin Laden „der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten“ sei. Sie nannte George Bush und bin Laden „Zwillinge“ und erklärte sie für „austauschbar“. Zur selben Zeit – da hatte der Krieg gegen den Terror noch gar nicht richtig begonnen – schrieb Botho Strauß, jetzt breche der „Kampf der Bösen gegen die Bösen“ an, und „die Blindheit der Glaubenskrieger und die metaphysische Blindheit der westlichen Intelligenz“ bedingten einander. Das waren schwer erträgliche Worte so kurz nach den Angriffen auf New York und Washington, als die Leichen noch unter den Trümmern lagen. Aber es war die Wahrheit.
Zehn Jahre danach wissen wir, wie das ist, wenn das Böse mit dem Bösen bekämpft wird, das Unrecht mit dem Unrecht. Wir haben die Gefolterten von Abu Ghraib gesehen, die Entführten aus den Gulfstreams der CIA, die Gefangenen von Guantánamo, die Getöteten des Drohnenkrieges. Diese Bilder werden für immer neben denen der brennenden Zwillingstürme von New York stehen und neben denen der zerfetzten Eisenbahnen von Madrid und London.
Während der Westen seinen Feind bekämpfte, wurde er wie er. Wir haben uns die Logik der Rache und die Rhetorik der Gewalt aufzwingen lassen und haben dem viel zu wenig entgegengesetzt. Angela Merkel sprach dem amerikanischen Präsidenten „Respekt für die gelungene Kommandoaktion“ aus. Respekt dafür, dass ein unbewaffneter alter Mann, der von Frauen und Kindern umgeben war, von 79 Elitesoldaten überfallen und erschossen wird. Dieser alte Mann war ein Massenmörder, und seine Resozialisierungschancen standen nach unseren Maßstäben schlecht. Aber es ist bemerkenswert, dass selbst die Bundeskanzlerin so wenig Wert auf unsere Maßstäbe legt.
Wofür Osama stand, hat nicht mit ihm begonnen
Der Tod Osama bin Ladens ist, wie die Angriffe auf New York und Washington annähernd zehn Jahre zuvor, eine Wegmarke entlang der schwierigen Entwicklung, die das Verhältnis zwischen der westlichen Welt und dem Islam genommen hat, die seit langem währt und die nun nicht an ihr Ende kommen wird. Osama bin Laden war eine historische Figur. Aber das, wofür er stand, hat mit ihm nicht begonnen, und es wird mit ihm nicht enden. Der „Orient“ dient uns seit langer Zeit als sehnsüchtig gefürchtetes Spiegelbild. Das reicht von Salamis bis Marathon, von Poitiers bis Akko, von den zwei Belagerungen Wiens bis zur Schlacht von Kut al-Amara.
Als das russische Imperium zusammenbrach, hatte der Westen keine Mühe, die frei gewordene Stelle des Feindes mit dem Islam zu besetzen. Schon 1995 kannte der damalige NATO-Generalsekretär Willy Claes die neue Marschrichtung: „Der islamische Fundamentalismus ist für den Okzident genauso gefährlich, wie es der Kommunismus war.“ Und die Muslime haben das Rollenspiel bereitwillig aufgenommen: Der Westen, der mit seiner eigentümlichen Mischung aus Pornos und Pressefreiheit, aus Coca-Cola und Cruise Missiles daherkommt, mit seinem Übermaß an Arroganz und seinem Mangel an Respekt, war ein passendes Feindbild für die Mühseligen und Beladenen, von denen es in den muslimischen Ländern mehr als genug gibt.
Dafür ist nun allerdings der Westen nicht verantwortlich. Zu viele Menschen in der muslimischen Welt werden unterdrückt. Die prowestlichen Regime unterdrücken sie und die antiwestlichen auch. Ob die Geheimpolizei im Dienst des Korans foltert oder im Dienst der CIA, spielt für das Opfer eine nachrangige Rolle. Auf diesem Boden der Wut konnte die böse Saat Osama bin Ladens aufgehen. So erfolgreich er als Terrorist war, so sehr ist er aber als Revolutionär gescheitert. Wie es häufig ist, wenn der Intellektuelle als Revolutionär auftritt: Er versteht es eine Weile lang, die Massen in seinen Bann zu ziehen. Aber es fehlt ihm am Ende das Verständnis für die Bedürfnisse der Massen.
Es ist bin Laden nicht gelungen, die arabische Revolution auszulösen, von der er wohl geträumt hat. Die ist in Nordafrika vor kurzem von ganz allein ausgebrochen, ohne Terrorismus. Und was die Leute da verlangen, ist das gleiche wie auf der ganzen Welt: Freiheit.
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