Seit Monaten dümpelt die SPD im Umfragetief bei 25 Prozent der Stimmen. Dabei könnte der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel längst Kanzler sein, meint die Politologin Gesine Schwan. Aber der SPD-Spitze fehle für diese Entscheidung der Mut.
Jakob Augstein: Sind Sie immer noch gerne Sozialdemokratin?
Gesine Schwan: Ja. Ich meine, es wäre ja langweilig, wenn man in einer Partei wäre, mit der man ganz und gar übereinstimmt.
Die meisten Gründe, die für eine SPD-Mitgliedschaft sprechen, liegen doch in der weit entfernten Vergangenheit.
Unter Rot-Grün hat es durchaus vernünftige innen- und sozialpolitische Entscheidungen gegeben. Aber es ist schon wahr, man holt sich noch mehr Ermutigungen aus der etwas ferner liegenden Vergangenheit. Das macht aber nichts, man muss sich ja nicht dauernd aus der aktuellen Politik bestätigt fühlen. Ich leite derzeit die SPD-Grundwertekommission und Persönlichkeiten wie Erhard Eppler, Willy Brandt oder Richard Löwenthal haben dort ein positives Erbe hinterlassen. Und wenn ich jetzt mal die andere große Volkspartei sehe: Richard von Weizsäcker hat mal die Grundsatzkommission der CDU geleitet; aber man spricht nicht davon, sondern von seiner Bundespräsidentschaft.
Die SPD hat es grundsätzlich schwerer als die CDU, weil die SPD eine Programmpartei ist und die CDU ein Kanzlerwahlverein?
Richtig, da gibt es eine Asymmetrie. Die SPD will ja etwas reformieren, oder, naiv gesprochen: die Welt verbessern. Konservative Parteien haben es da leichter. Sie wollen nicht wirklich etwas verändern und müssen sich deshalb auch nicht andauernd auf neue Programme verständigen. Und sie müssen auch nicht gegen den Strom schwimmen. Sie schwimmen prinzipiell mit ihm. Die SPD ist eben eine linke Partei. Und ich verstehe mich auch als links.
Sind Sie da nicht in der Opposition in Ihrer Partei?
Parteichef Sigmar Gabriel wollte unbedingt, dass ich die Grundwertekommission leite. Er wusste ja, mit wem er es zu tun hat, da kann ich also nicht meckern. In der Griechenlandkrise hat er allerdings nicht auf meine Meinung gehört. Aber das gehört zur politischen Auseinandersetzung. Und es ist ja nicht so, dass Gabriel in der Griechenland-Politik großen Rückhalt in der Parteispitze hatte. Aber natürlich werden alle, die dort Ämter innehaben, sehr vorsichtig sein, öffentlich Kritik zu äußern.
Gabriel sagt: „Alle entscheidenden Projekte dieser Regierung stammen von uns, wir sind in 14 von 16 Landesregierungen vertreten und stellen neun Ministerpräsidenten.“ Trotzdem hat man nicht das Gefühl, dass die SPD eine führende Partei ist. Warum?
In den Ländern gibt es viele überzeugende Politiker und in den Kommunen gibt es die erst recht. Aber mit dem Agieren der Parteispitze bin ich nicht zufrieden. Wenn ich mir das letzte Wahlergebnis anschaue, dann muss man sagen: Es gibt im Bundestag rechnerisch eine rot-rot-grüne Mehrheit.
Könnte Gabriel nicht längst Kanzler sein?
Ja, natürlich.
Warum handelt die SPD nicht?
Ich glaube, dass es einige wichtigen Personen in der SPD gibt, die das wollen. Ich persönlich will das auch. Es gibt aber andere einflussreiche Sozialdemokraten, die die Sorge haben, dass Angela Merkel so übermächtig ist, dass man sie nicht besiegen kann. Dazu passt folgendes Zitat: „Sie ist eine Kanzlerin, wie sie die Deutschen offensichtlich mögen. Ich glaube, es ist schwer, gegen diese Kanzlerin eine Wahl zu gewinnen.“ Wer hat das gesagt? Sigmar Gabriel?
Nein, Torsten Albig, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein.
Ach, derjenige, der gesagt hat, Merkel mache einen guten Job. Das fand ich völlig daneben.
Albig hat auch gesagt, die SPD könne es sich sparen, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen.
Das könnte man nun wieder als Satire nehmen ...
Nein, das war ernst gemeint. Können Sie erklären, was bei der SPD los ist?
Es ist Folgendes los: In der Parteispitze gibt es keine Persönlichkeit, die davon überzeugt ist, dass man gegen Merkel – Popularität hin oder her – kämpfen muss. Wenn Sie meinen, da stimmt etwas mit der SPD nicht: Da haben Sie recht. Es gibt ja überhaupt keine Alternative, als dafür zu kämpfen, dass die SPD sich wieder für die Werte einsetzt, die sie in Sonntagsreden zumindest theoretisch vertritt.
Was sind das für Werte? Und wie unterscheiden die sich von der ersten sozialdemokratischen Kanzlerin, die aber leider ein CDU-Parteibuch hat?
Frau Merkel hat noch nie eine werteorientierte Politik betrieben. Auch nicht in der Flüchtlingsfrage. Da spielen andere Überlegungen eine Rolle. Es kann ja sein, dass sie Sozialreformen mitgemacht hat, dass sie eine moderne Vorstellung vom Geschlechterverhältnis hat, von Homosexualität. Aber das sind keine Werteüberzeugungen, das ist Engineering. Die Werte der SPD sind bekanntermaßen Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Leider wird der Wert der Solidarität von der Parteispitze in der letzten Zeit am wenigsten betont. Das hat einen Grund: Frau Merkel unterstellt der Solidarität seit Jahren, dass sie nur Verantwortungslosigkeit fördere, zum Beispiel in der Europapolitik. Aber Solidarität ist eine wichtiger Wert. Und er wird auch von vielen sehr, sehr ernst genommen – nur nicht an der SPD-Spitze.
Frankreichs Präsident François Hollande hat gesagt: Ich bin kein gemäßigter Sozialist, ich bin auch nicht mäßig sozialistisch, ich bin einfach Sozialist. So einen Satz würde ein Sozialdemokrat hierzulande nicht über die Lippen bringen. Außer vielleicht Gregor Gysi, aber der ist nicht in der SPD.
Ach, der Gysi, der ist letztlich ein Sozialdemokrat.
Das finde ich auch.
Sehen Sie. Aber es ist wahr, die Sozialisten in Frankreich agieren in einem völlig anderen Assoziationsraum. In Deutschland wurde das Wort Sozialismus im öffentlichen Bewusstsein lange Zeit mit der DDR verbunden. Deshalb zögern viele, sich als Sozialist zu bezeichnen. Ich selbst habe mich immer als Sozialdemokratin bezeichnet, nicht als Sozialistin, weil das für mich keine Weltanschauung ist.Ich will auch kein total anderes System. Ich will, dass innerhalb einer pluralistischen Demokratie eine bessere Politik betrieben wird – was unter den Bedingungen der Globalisierung sehr schwierig ist.
Das reichste Prozent der Leute besitzt 33 Prozent der Vermögen und die ärmere Hälfte der Haushalte nur 2,5 Prozent. Die soziale Ungleichheit nimmt zu. Jetzt könnte man meinen: ein perfekter Nährboden für linke Politik. Aber das große Bündnis der irgendwie linken Parteien gibt es nicht. Warum?
Zum einen, weil es in der SPD immer noch ein Tabu ist, über eine rot-rot-grüne Regierung nachzudenken. Es gibt da diese Angst vor einer Neuauflage einer Rote-Socken-Kampagne, die die CDU in den 90er Jahren gegen ein SPD/PDS-Bündnis gemacht hat. Ich glaube zwar nicht, dass so etwas heute noch ziehen würde. Aber die Angst ist trotzdem da. Und dann gibt es natürlich in der SPD viele, die sagen: In der Linkspartei sind immer noch welche, die die DDR-Vergangenheit nicht aufgearbeitet haben. Und da hilft es auch nicht, dass es in einigen Bundesländern bereits rot-rote Koalitionen gegeben hat, die keinesweg in den Stalinismus geführt haben, sondern in denen sehr vernünftige Politik gemacht wurde.
Kann sich diese Haltung ändern?
Dazu bräuchte man eine mutige Führungspersönlichkeit, die sagt: So, das ist jetzt unser Weg. Man muss ja bei so einem Projekt nicht unbedingt Steuererhöhungen in den Vordergrund stellen, sondern die Themen gerechte Bildung, moderne Infrastruktur, soziale Gerechtigkeit. Ich bin sicher, dass es dafür eine Mehrheit gibt.
Weil Sie auch eine Politologin sind, kann ich Sie fragen: Was ist die politische Mitte?
Eine lange Tradition meinte, dass die Mitte aus Leuten besteht, die nicht zu viel und nicht zu wenig Eigentum haben, die gebildet sind und die sich interessieren, dass das eher gemäßigte, demokratische Leute sind. Aber heute stimmt das nicht mehr. Man kann die soziale Mitte nicht gleichsetzen mit einem starken demokratischen Engagement. Die Mitte ist einfach nicht mehr engagiert oder besonders demokratisch gesinnt.
Warum wollen dann alle Parteien in die Mitte? Auch die SPD meint spätestens seit Peter Glotz: Wahlen gewinnt man in der Mitte.
Das bezweifele ich. Als Peter Glotz das gesagt hat, war die Situation noch eine andere als heute. Wir müssen uns klarmachen, dass ein großer Teil der potenziellen Wähler der SPD gar nicht mehr zur Wahl geht. Unser großes Wählerreservoir sind nicht diejenigen, die wir Frau Merkel abtrotzen könnten, sondern es sind diejenigen, die nicht mehr wählen. Es geht um ein Potenzial von ungefähr 20 bis 25 Prozent. Viele haben sich einfach ausgeklinkt, darunter Hartz-IV-Empfänger, Einwandererkinder und Einwanderer. Die Mitte ist dagegen ein eher kleines Segment. Ich meine aber damit nicht, dass die Sozialdemokraten nur noch auf diese Wählerschicht schauen sollten. Die SPD muss einen Spagat schaffen, sowohl die Wohlsituierten, Gebildeten, Engagierten zu erreichen als auch diejenigen, die sich ausgeklinkt haben. Und im Übrigen meine ich auch nicht, dass man Unternehmer beiseitelassen soll, weder im Mittelstand noch in Großunternehmen.
Ein Lieblingswort von Willy Brandt lautete „Compassion“. Sigmar Gabriel hat das übersetzt als „die Fähigkeit, das Leben anderer durch deren Augen zu sehen und mit ihnen zu empfinden“. Wenn er das so versteht, dann gibt es vielleicht doch noch Hoffnung für ihn?
Es gibt immer Hoffnung. Ich habe persönlich eine gute Beziehung zu Sigmar Gabriel und ich habe auch sehr viele vernünftige Gespräche mit ihm führen können. Ich bin sicher, dass der positive Absichten hat. Aber er ist auf der anderen Seite auch unter dem Druck vieler taktischer Erwägungen und Strömungen dieser Partei. Das ist kein Zuckerschlecken. Als Mensch würde ich ihn nie ablehnen. Aber bestimmte Entscheidungen muss ich kritisieren.
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