De mortuis nihil nisi bene. Toten soll man nichts Schlechtes hinterherrufen. Aber der Bundespräsident ist gar nicht tot. Er will nur in Rente gehen. Man darf sich trotz der weihevollen Stimmung, die diesen Abschied umgibt, schon noch mit der Bilanz seiner Präsidentschaft befassen. Es steht zwar nicht gut um Deutschland, aber so schlecht, dass dieser Präsident fehlen wird, steht es auch wieder nicht. Im Gegenteil. Gaucks Abgang bietet rechtzeitig vor den Bundestagswahlen im kommenden Jahr eine Chance: SPD, Linke und Grüne können jetzt beweisen, ob es ihnen mit einer linken Alternative zu Merkel ernst ist. Ein gemeinsamer Kandidat wäre ein Signal für 2017.
Allerdings lehrt die Vergangenheit Vorsicht: Immerhin war auch Joachim Gauck schon ein Kandidat der SPD und der Grünen. Es fällt schwer, sich das im Rückblick vorzustellen: Zwei mehr oder minder linke Parteien berufen den knarzig-konservativsten Präsidenten seit es Schokolade gibt – was ist da bloß schiefgelaufen? Aber der ganze Gauck war ja in Wahrheit ein großes Missverständnis. Es heißt, er habe dem Amt seine Würde zurückgegeben. Das stimmt. Allein, diese Aufgabe erforderte keine übermenschlichen Fähigkeiten. Hätte Gauck das Schloss Bellevue nicht in dem Dämmerlicht übernommen, in dem Christian Wulff es hinterlassen hatte, dieser Präsident hätte nicht so hell gestrahlt.
Joachim Gauck war der politischste Präsident seit Richard von Weizsäcker. Das war gut, weil wir politische Präsidenten brauchen. Und das war schlecht, weil er es war. Gauck hat sein Amt so ernst genommen, weil er sich so ernst nimmt. Er redet so gut, weil er sich so gerne reden hört. Sein Pathos ist so überzeugend, weil sein Mitgefühl mit sich selbst grenzenlos ist.
Erfrischend reaktionär hat Berthold Kohler in der FAZ einmal formuliert: „Mit dem linkslastigen Gutmenschentum, das im evangelischen Milieu anzutreffen ist, verbindet ihn wenig.“ Das kann man wohl sagen. Stattdessen hat Pastor Gauck die unangenehmsten Seiten des Protestantismus in die Politik geholt: Rigorismus und Rechthaberei. Wohlmeinend ließe sich sagen, er hatte einen eigenen Kopf – wirklichkeitsnäher müsste man sagen: Gauck war eigensinnig. Und vor allem: Er konnte einfach den Mund nicht halten.
Selbst als eines Nachts auf einem Parkplatz in Offenbach eine junge Türkin niedergeschlagen wurde, musste sich dieser Bundespräsident einmischen. Er gab gleich bekannt, er werde prüfen, ob der Frau, die sich in einen Streit eingemischt hatte, nicht das Bundesverdienstkreuz zu verleihen sei. Und noch während die Ermittlungen liefen, schrieb er den Eltern der Toten, ihre Tochter sei „Opfer eines brutalen Verbrechens“ geworden. Der Bundespräsident hatte damit kurzerhand in ein laufendes Verfahren eingegriffen. Mitten im deutschen Rechtsstaat. Die Justiz war entsetzt.
Nicht minder entsetzt als das Auswärtige Amt es war, wenn Gauck mal wieder private Außenpolitik betrieb. Zum Beispiel, als er auf der polnischen Westerplatte zwar das „gemeinsame Europa“ beschwor, aber gleichzeitig Wladimir Putin indirekt mit Adolf Hitler verglich. Dass der Angriff auf Polen unmittelbar in das „Unternehmen Barbarossa“ mündete, den Krieg gegen die Sowjetunion, mit seinen annähernd 30 Millionen Toten – das erwähnte der Präsident mit keinem Wort. Denn er hat es nicht so mit den Russen, der Pastor aus dem Osten. Darum hatte er im Dezember 2013, noch vor der Krim-Krise, erklärt, er werde auch nicht zu den Olympischen Spielen nach Sotschi fahren. Kanzleramt und Außenministerium hatten von dieser demonstrativen Geste abgeraten. Vergebens.
Unbeirrt machte Gauck aus dem Schloss Bellevue ein Zentrum für private Traumatherapie. Als die Linkspartei kurz davor war, in Thüringen den Ministerpräsidenten zu stellen, fragte sich Joachim Gauck, ob die Partei „schon so weit weg“ sei „von den Vorstellungen, die die SED einst hatte bei der Unterdrückung der Menschen hier, dass wir ihr voll vertrauen können“. Auch das ging weit über das Maß an politischer Einmischung durch einen Bundespräsidenten hinaus, das dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland noch zuträglich ist.
Es hieß immer, Gaucks Thema sei die Freiheit. Aber Freiheit bedeutete für ihn stets nur Abwesenheit von DDR. Für gegenwärtige Bedrohungen der Freiheit stellte er sich blind. „Unsäglich albern“ nannte er in der Finanzkrise die Occupy-Bewegung. Der NSA-Skandal interessiert ihn ebenso wenig wie die soziale Dimension der Freiheit – gesellschaftliche Spaltung, Ungleichheit, Armut, prekäre Beschäftigungsverhältnisse.
In einer anderen Zeit wäre Joachim Gauck kein schlechter Präsident gewesen. Er war einfach ein Mann von gestern. Vom ersten Tag an. Seine Entscheidung, in seinem Alter für das Amt nicht erneut zu kandidieren, verdient Respekt. Man kann vermuten, sie fiel ihm nicht leicht.
Wer immer nun ins Schloss Bellevue einzieht, sollte der Gegenwart verpflichtet sein, nicht der Vergangenheit. Wenn es Sigmar Gabriel ernst ist mit seiner Äußerung im Interview der Zeit, die SPD müsse radikaler werden, dann wäre jetzt der Moment: Sozialdemokraten, Linke und Grüne könnten sich auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen – oder eine Kandidatin. Nach jahrhundertelanger männlicher Dominanz verträgt Deutschland auch zwei Frauen an der Spitze.
Kommentare 23
Mit einem Wort: Gesine Schwan muss es werden!
die schwänin wärs gewesen.
drum prüfe, wer sich 5 jahre bindet,ob sich...
Dito. Gesine Schwan wäre die ideale Besetzung. Ich würde es uns von ganzem Herzen wünschen.
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Hier ist was zum Lachen. Das ist der ganze Gauck.
>>Wenn es Sigmar Gabriel ernst ist mit seiner Äußerung im Interview...<<
Warum nur fällt es mir so schwer, einem SPDisten etwas zu glauben?
Vorurteil?
Oder doch eher Erfahrung?
Es ist mir bis heute unbegreiflich, wie dieser Wulff im Schafspelz überhaupt in dieses Amt gelangen konnte, noch dazu ausgerechnet auf Drängen und Bitten von SPD und Grünen ( ein einmaliger Vorgang von sozialdemokratischer kognitiver Dissonanz,allein, wenn man bedenkt, wie seine Ernennung in rechten Blättern wie z.B. der "National-Zeitung" und der "Jungen Freiheit" euphorisch begrüßt wurde).
Mit seinem bewusst schwammig und abstrakt formuliertem Mantra der Freiheit dagegen hat er m.E. überzeugend seine festen Willen und seine grimmige Entschlossenheit gezeigt - seine Entschlossenheit, vor allem nicht in Widersprüche verwickelt zu werden : in Widersprüche, die sich ergeben könnten aus dem freiheitlichen Umgang mit seiner eigenen Biografie.
Schwan als Präsidentin würde mir auch gefallen, aber ich glaube, ihr selbst liegt nicht so viel an diesem Amt- was wiederum für sie spricht.
Noch besser fände ich Frau Käßmann- weil sie m.E. am besten verstanden hat, was die Würde eines Amtes bedeutet- und zwar indem man Charakter zeigt und rechtzeitig in Würde zurücktritt.
Sehr geehrter Herr Augstein,
Ihre Abneigung gegen diesen Bundespräsidenten speist sich wohl hauptsächlich aus der Tatsache, dass er dezidiert nicht-links ist, also ihm individuelle Freiheit und Selbstbestimmung wichtiger sind als eine vom Staat verordnete Gleichheit. Natürlich hat das mit seinem Leben in der DDR zu tun - warum auch nicht?
Den beiden (kurzzeitigen) Vorgängern triefte ja die ranzige BRD-Vergangenheit aus Körperhaltung und Grinsgesicht, bereits bevor man deren ersten Sätze gehört hat.
Die Knorrigkeit und Knarzigkeit von Herrn Gauck, an der Sie sich in dem Text abarbeiten, könnte eine der besseren Seiten der Welt von gestern sein. Wir sind alle von gestern, die einen haben deren Kennzeichen bei der stromlinienförmigen Anpassung an den linken Zeitgeist vergessen.
Von gestern? Gestern war die Zeit, als wir unsere Lektionen lernten. Für die Menschen im Westen waren es mehr Wohlstand, weniger Grenzen, anything goes. Den Menschen im Osten, im realen Sozialismus, waren es die harten Grenzen ihrer Lebensträume und die konkreten Landesgrenzen.
Seinen Sie fair mit unseren jetzigen Präsidenten, und hoffen wir alle auf eine(n) Nachfolger(in), der/die uns im Amt etwas zu sagen hat.
MfG
R.Petersen
"Nordlicht"
Ich kann Ihnen nur zustimmen!
Präsident Gauck hat nach den letzten Fehltritten dem Amt wieder die nötige Würde gebracht. Alleine das verdient bereits Respekt.
Was ich persönlich an Gauck schätze ist seine hohe Motivation sich weltweit für Menschenrechte und entgegen der Berliner Regierungslinie, für ein menschlicheres Miteinander einzusetzten. Hierfür hat der Präsident nicht selten Schelte bekommen.
Sein(e) Nachfolger*in tritt in große Fußstapfen.
In einer anderen Zeit wäre Joachim Gauck kein schlechter Präsident gewesen. Er war einfach ein Mann von gestern.
Setzen wir einfach mal voraus, diese These treffe zu. Selbst dann war er ein guter Präsident zur richtigen Zeit. Er hat immerhin das Ansehen einer Institution in der Öffentlichkeit wiederhergestellt, das in den Jahren davor doch auf ungewöhnlich unprofessionelle Art und Weise ramponiert worden war.
Seine Entscheidung, in seinem Alter für das Amt nicht erneut zu kandidieren, verdient Respekt.
Vor allem habe ich Respekt vor dem, was Gauck in seiner bisherigen Amtszeit erreicht hat.
Augstein steht mit seiner Kritik ja nicht alleine da. Thomas Schmid (Die Welt) sieht es ebenso:
http://www.welt.de/politik/deutschland/article156005569/Es-ist-gut-dass-Gauck-geht.html
Und viele andere sehen es auch so. Es ist natürlich jedem unbenommen, Gaucks Wirken als Bundespräsident wohlwollend zu beurteilen. Aber sein naives, um nicht zu sagen reaktionäres Verständnis von Freiheit ist eines Bundespräsidenten unwürdig, wie es Augstein hier zutreffend auf den Punkt brachte:
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/joachim-gauck-geht-gut-so-kolumne-a-1096555.html
Zitat:
Gauck konnte bis zum Schluss nicht verstehen, dass die Freiheit nicht nur in der Diktatur des Proletariats verkümmert, sondern auch in der Diktatur des Profits. Ihre soziale Dimension - gesellschaftliche Spaltung, Ungleichheit, Armut, prekäre Beschäftigungsverhältnisse - blieb ihm verschlossen. Die Occupy-Bewegung nannte er "unsäglich albern".
Davon, dass Gauck ein Herz für die Schwachen in dieser sogenannten Wohlstandsgesellschaft gehabt hätte, war nie etwas zu spüren. Die Schwachen, das sind für ihn Almosenempfänger, die die sich nur auf den Hosenboden setzen müssen, damit sie sich aus eigener Kraft helfen können. Was für ein erbärmliches, saudummes Verständnis der politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge von Armut!
Um diesen Präsidenten zu schätzen, muss man schon gehörige Scheuklappen haben. Unvergessen seine Bemerkung, "Und dass es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen", mit anderen Worten, die Deutschen sollen sich nicht so anstellen, schließlich sind wir wieder wer und da sollten wir uns mit Soldaten auch im Ausland wieder bemerkbar machen, auch wenn dann der eine oder andere Zinksarg nachhause kommt.
Andere Entgleisungen dieses unsäglichen angeblichen "Bürgerrechtlers" sind im Netz in großer Zahl zu finden.
Nein, dieser Präsident ist nicht meiner gewesen und für Deutschland hätte es weitaus geeignetere gegeben.
"Moral ist wer moralisch ist, versteht er?"
Wenn "er" so gesehen wird, dann trifft es vielleicht zu. Dazu zählt aber ein wenig mehr, als ein mit "Sendungsbewusstsein" versehener Ex-Pastor, der sein eindimensionales Freiheitsverständnis mehr als einmal klar zum Ausdruck gebracht hat.
Und wenn @JR schreibt:"Vor allem habe ich Respekt vor dem, was Gauck in seiner bisherigen Amtszeit erreicht hat.", dann kann ich das heraussuchen, was mit der eigenen Position übereinstimmt: bei mir ist es umgekehrt.
Sieh' da, Herr Augstein hat mal wieder ein Stöckchen geworfen. :-D
So sucht sich jeder die Stichworte, welche zur Bestätigung der eigenen Weltwahrnehmung geeignet erscheinen.
Was kommt nach dem Pastoralpräsidium und der physikalischen Kanzlerin, die den elementaren Zerfall Europas vom Ende her bedacht hat? Wagalaweia.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Ich habe Gauck eigentlich nie als Präsident gesehen. Er hat seine eigenen Vorstellungen zum Besten gegeben und eher den Eindruck eines Bibelkreisleiters gemacht. Seine Reden fand ich eher einlullend und ermüdend.
Einem Weizsäcker konnte er nie das Wasser reichen. Das wäre eher Frau Schwan möglich gewesen.
Dass sich das (falsche, hohle) Pathos aufs Alterteil zurückzieht, ist zwar richtig. Ebenso hohl ist es allerdings, mit Formulierungen wie »gestern« und »morgen« eigenes Pathos zu verbreiten. Nicht nur deswegen, weil Staatsämter kein Contest in Sachen »Modernität« sind. In dem Sinn könnte man sogar sagen, dass Gauck durchaus modern war. Kein anderer hat das neue wilhelminisch-preußische Selbstverständnis des neuen bürgerlichen Deutschland so mit Leben gefüllt wie Joachim Gauck.
Was morgen »modern« ist, ist ebensowenig ausgemacht. Wie es aussieht, doch eher: noch mehr Neoliberalismus, noch mehr Schere und noch mehr krachende Armut. Also ist Gauck doch wohl nicht der Falsche, sondern eher der Richtige – oder?
Der Bundespräsident Gauck traf in Chile Colonia-Dignidad-Opfer. (!) Zu einem Empfang in der deutschen Botschaft war aber auch ein ehemaliger Scherge der Sekte geladen ... es wird endlich Zeit das Herr Gauck geht! " Nein, dieser Präsident ist nicht meiner gewesen und für Deutschland hätte es weitaus geeignetere gegeben." (*****)!
... noch was ganz lustiges!
Gauck vergleicht Stasi-Akten mit NSA-Datensammlung - YouTube▶ 0:11https://www.youtube.com/watch?v=XY9KLSf2m5A
Ein Mann von Gestern? Wohl doch eher von Vorgerstern! Das Segnen von Kanonen sollte doch schon seit 1000 Jahren aus der Mode sein. Auch Kriegshetze, Herrenmenschenallüren und Volksgemeinschaftsgeschwafel haben so etwas ungeheuer Freiheitliches., nicht wahr?
Gauck: "Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind ...▶ 0:07https://www.youtube.com/watch?v=JOGxvKPDDuE
"Wohl doch eher von Vorgerstern!" ! ... (*****)!
Gauck oder nicht Gauck - Wir brauchen einen Bundespräsidenten wie eine Pflanze die Blattlaus. Ja, Gauck ist ein Mann von Gestern und Wulff war ein Fehlzünder. Kosten tut er dem Steurzahler trotzdem 200k € im Jahr. So wie jeder scheidente Bundespräsident. Von daher sollte der nächste mindestens 40 Jahre im Amt bleiben.