Das Pathos dankt ab

Präsident Joachim Gauck war ein Mann von gestern, und zwar vom ersten Tag an. Sein Abschied ist eine Chance, kein Verlust
Ausgabe 23/2016
Am 6. Juni 2016 gab Joachim Gauck bekannt, dass er nicht mehr kandidieren werde
Am 6. Juni 2016 gab Joachim Gauck bekannt, dass er nicht mehr kandidieren werde

Foto: Sean Gallup/Getty Images

De mortuis nihil nisi bene. Toten soll man nichts Schlechtes hinterherrufen. Aber der Bundespräsident ist gar nicht tot. Er will nur in Rente gehen. Man darf sich trotz der weihevollen Stimmung, die diesen Abschied umgibt, schon noch mit der Bilanz seiner Präsidentschaft befassen. Es steht zwar nicht gut um Deutschland, aber so schlecht, dass dieser Präsident fehlen wird, steht es auch wieder nicht. Im Gegenteil. Gaucks Abgang bietet rechtzeitig vor den Bundestagswahlen im kommenden Jahr eine Chance: SPD, Linke und Grüne können jetzt beweisen, ob es ihnen mit einer linken Alternative zu Merkel ernst ist. Ein gemeinsamer Kandidat wäre ein Signal für 2017.

Allerdings lehrt die Vergangenheit Vorsicht: Immerhin war auch Joachim Gauck schon ein Kandidat der SPD und der Grünen. Es fällt schwer, sich das im Rückblick vorzustellen: Zwei mehr oder minder linke Parteien berufen den knarzig-konservativsten Präsidenten seit es Schokolade gibt – was ist da bloß schiefgelaufen? Aber der ganze Gauck war ja in Wahrheit ein großes Missverständnis. Es heißt, er habe dem Amt seine Würde zurückgegeben. Das stimmt. Allein, diese Aufgabe erforderte keine übermenschlichen Fähigkeiten. Hätte Gauck das Schloss Bellevue nicht in dem Dämmerlicht übernommen, in dem Christian Wulff es hinterlassen hatte, dieser Präsident hätte nicht so hell gestrahlt.

Joachim Gauck war der politischste Präsident seit Richard von Weizsäcker. Das war gut, weil wir politische Präsidenten brauchen. Und das war schlecht, weil er es war. Gauck hat sein Amt so ernst genommen, weil er sich so ernst nimmt. Er redet so gut, weil er sich so gerne reden hört. Sein Pathos ist so überzeugend, weil sein Mitgefühl mit sich selbst grenzenlos ist.

Erfrischend reaktionär hat Berthold Kohler in der FAZ einmal formuliert: „Mit dem linkslastigen Gutmenschentum, das im evangelischen Milieu anzutreffen ist, verbindet ihn wenig.“ Das kann man wohl sagen. Stattdessen hat Pastor Gauck die unangenehmsten Seiten des Protestantismus in die Politik geholt: Rigorismus und Rechthaberei. Wohlmeinend ließe sich sagen, er hatte einen eigenen Kopf – wirklichkeitsnäher müsste man sagen: Gauck war eigensinnig. Und vor allem: Er konnte einfach den Mund nicht halten.

Selbst als eines Nachts auf einem Parkplatz in Offenbach eine junge Türkin niedergeschlagen wurde, musste sich dieser Bundespräsident einmischen. Er gab gleich bekannt, er werde prüfen, ob der Frau, die sich in einen Streit eingemischt hatte, nicht das Bundesverdienstkreuz zu verleihen sei. Und noch während die Ermittlungen liefen, schrieb er den Eltern der Toten, ihre Tochter sei „Opfer eines brutalen Verbrechens“ geworden. Der Bundespräsident hatte damit kurzerhand in ein laufendes Verfahren eingegriffen. Mitten im deutschen Rechtsstaat. Die Justiz war entsetzt.

Nicht minder entsetzt als das Auswärtige Amt es war, wenn Gauck mal wieder private Außenpolitik betrieb. Zum Beispiel, als er auf der polnischen Westerplatte zwar das „gemeinsame Europa“ beschwor, aber gleichzeitig Wladimir Putin indirekt mit Adolf Hitler verglich. Dass der Angriff auf Polen unmittelbar in das „Unternehmen Barbarossa“ mündete, den Krieg gegen die Sowjetunion, mit seinen annähernd 30 Millionen Toten – das erwähnte der Präsident mit keinem Wort. Denn er hat es nicht so mit den Russen, der Pastor aus dem Osten. Darum hatte er im Dezember 2013, noch vor der Krim-Krise, erklärt, er werde auch nicht zu den Olympischen Spielen nach Sotschi fahren. Kanzleramt und Außenministerium hatten von dieser demonstrativen Geste abgeraten. Vergebens.

Unbeirrt machte Gauck aus dem Schloss Bellevue ein Zentrum für private Traumatherapie. Als die Linkspartei kurz davor war, in Thüringen den Ministerpräsidenten zu stellen, fragte sich Joachim Gauck, ob die Partei „schon so weit weg“ sei „von den Vorstellungen, die die SED einst hatte bei der Unterdrückung der Menschen hier, dass wir ihr voll vertrauen können“. Auch das ging weit über das Maß an politischer Einmischung durch einen Bundespräsidenten hinaus, das dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland noch zuträglich ist.

Es hieß immer, Gaucks Thema sei die Freiheit. Aber Freiheit bedeutete für ihn stets nur Abwesenheit von DDR. Für gegenwärtige Bedrohungen der Freiheit stellte er sich blind. „Unsäglich albern“ nannte er in der Finanzkrise die Occupy-Bewegung. Der NSA-Skandal interessiert ihn ebenso wenig wie die soziale Dimension der Freiheit – gesellschaftliche Spaltung, Ungleichheit, Armut, prekäre Beschäftigungsverhältnisse.

In einer anderen Zeit wäre Joachim Gauck kein schlechter Präsident gewesen. Er war einfach ein Mann von gestern. Vom ersten Tag an. Seine Entscheidung, in seinem Alter für das Amt nicht erneut zu kandidieren, verdient Respekt. Man kann vermuten, sie fiel ihm nicht leicht.

Wer immer nun ins Schloss Bellevue einzieht, sollte der Gegenwart verpflichtet sein, nicht der Vergangenheit. Wenn es Sigmar Gabriel ernst ist mit seiner Äußerung im Interview der Zeit, die SPD müsse radikaler werden, dann wäre jetzt der Moment: Sozialdemokraten, Linke und Grüne könnten sich auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen – oder eine Kandidatin. Nach jahrhundertelanger männlicher Dominanz verträgt Deutschland auch zwei Frauen an der Spitze.

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Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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