„Eine Große Koalition ist eine Koalition für große Aufgaben“, hat Angela Merkel gesagt, und das war gleich zu Beginn ihrer dritten Amtszeit der erste Unsinn, den sie den Leuten erzählte. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: je größer die Koalition, desto kleiner das politische Projekt. Und diese Koalition ist sehr groß. Im Bundestag bleibt gerade noch Platz für ein kleines Oppositiönchen. Der Koalitionsvertrag zeigt: Nur die Zahl der politischen Ambitionen dieser neuen Bundesregierung ist groß, nicht aber ihr Umfang. Was die für unser Schicksal wichtigsten Themen angeht – Europa und Gerechtigkeit – stehen uns verlorene Jahre bevor. Und wir können nur hoffen, dass es nicht vier Jahre sein werden.
Diesem Anfang wohnt wahrhaftig kein Zauber inne, sondern eine Lähmung. Frau Doktor Merkel ist die Fachärztin für politische Anästhesie im Kanzleramt, und wir alle sind ihre Patienten, ob wir wollen oder nicht. Irgendein Projekt, das diesen Namen verdient, ist mit „Merkel III“ nicht verbunden. Im Gegenteil. In der FAZ hat Günter Bannas über Angela Merkel geschrieben: „Die Realität ist für sie stärker als ihr Wille, diese zu verändern.“ Längst haben ja auch die Konservativen – gerade sie – begriffen, dass diese Kanzlerin einem Hyperrealismus huldigt, der sie für die Politik eigentlich ungeeignet machte, wäre sie damit nur nicht so verheerend erfolgreich. Merkel verändert unser Bild gelungener Politik: Zwei Amtszeiten dieser Kanzlerin haben die Idee, dass Politik überhaupt ein Projekt haben könnte, verdächtig gemacht.
Leidenschaftslose Verwaltung, wie Merkel sie vormacht, wird zum politischen Vorbild erklärt. Aber damit lässt sich gerade das europäische Dilemma nicht lösen. Der Weg in Europas Zukunft führt durch die Enge zwischen der institutionellen Trägheit des Südens und dem ökonomischen Egoismus der Deutschen. Was für eine Aufgabe für einen Politiker! Timothy Garton Ash hat im Spiegel gesagt: „Europa braucht heute einen Willy Brandt, der eine Politik der kleinen Schritte in größere, inspirierende Worte übersetzen kann.“ Und er hat hinzugefügt: „Frau Merkel hat viele Stärken, aber diese nicht.“
Gerade erst hat Deutschland im Finanzministerrat durchgesetzt, dass die Mitgliedsstaaten in der künftigen Bankenunion das letzte Wort bei der Abwicklung überschuldeter Geldhäuser haben. Von „brachialer Machtpolitik“ spricht EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Gar nicht daran zu denken ist, dass diese Bundesregierung es unternehmen würde, die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte zu beheben, mit denen wir die Europäische Union belasten. Der Mindestlohn, auf den die SPD so stolz ist und der bis 2017 auf sich warten lassen kann, wird wohl kaum genügen, das jahrelange Lohndumping der deutschen Exportwirtschaft zu kompensieren.
Was ging wohl in Merkels Kopf vor, als sie die SPD beim Ringen mit sich selbst beobachtete? Es war ein Schauspiel demokratischer Würde, das die alte Partei hier gab. Regieren? Oder nicht regieren? Es ist der SPD zu verdanken, dass für kostbare Momente die Schläfrigkeit von Deutschland gewichen ist. Der Mitgliederentscheid war mehr als nur „ein Fest innerparteilicher Demokratie“, wie SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte. Er war eine Erinnerung daran, was bei uns auf dem Spiel stehen könnte: die Debatte darüber, wer wir sein wollen. Vorüber. Es ist ein Zeichen für den trüben Zustand unserer demokratischen Kultur, wie sehr sich die SPD für dieses Verfahren rechtfertigen musste. Man hat der Partei wahlweise vorgeworfen, die Verfassung zu brechen oder die Regierungsgeschäfte zu verzögern. Aber Demokratie ist bei uns noch verfassungskonform, und die Zeit dafür müssen wir uns nehmen.
Was für possierliche Tierchen, diese Sozialdemokraten, mag Doktor Merkel gedacht haben, denn für sie stellen sich solche Fragen nicht und sie hätte sie auch nie ihren Parteimitgliedern gestellt. Regieren? Klar, egal mit wem, egal wofür. „Und I’m learning Chinese“, hat der Songwriter Tom Lehrer gedichtet.
Mehr als die Verhinderung von Steuererhöhungen hat Angela Merkel ihren Wählern nicht versprochen – und mehr wollten die auch gar nicht haben. Aber von jenen, die von einer Umverteilung profitiert hätten, sind zu viele zu Hause geblieben. Diese Bundestagswahl war eine „sozial prekäre Wahl“, die Armen kehren dem System den Rücken zu. Es ist eine nicht behebbare Schwäche der repräsentativen Demokratie, dass sie nur den vertritt, der sich auch vertreten lässt.
Die Zeiten für Journalisten werden schwerer: Glucksend vor Freude haben sich die Medien auf die Personalien des neuen Kabinetts gestürzt. Viel mehr wird ihnen künftig auch nicht übrig bleiben: Politik als Personality-Show. Besonders die Ernennung von Ursula von der Leyen wurde allgemein als „spektakulär“empfunden. Belohnung für treue Dienste? Oder Strafversetzung einer Konkurrentin? Wollte die Ehrgeizige das Gesundheitsministerium nicht haben? Oder drängte es sie auf die internationale Bühne? Schalten Sie ein zur nächsten Folge von Merkels 15.
Es beginnt jetzt ein langer deutscher Winterschlaf. Die Opposition im Bundestag ist kleiner, als man sich das damals auf Herrenchiemsee vorstellen konnte. Es ist keine Beruhigung, dass ausgerechnet Bild sich um die Demokratie sorgt und sich vorsorglich selbst zur neuen APO erklärt hat.
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