Die Hysterie ist unter den Nervenkrankheiten die älteste. Die ägyptischen Ärzte wussten, dass die Gebärmutter wie ein Tier sei. Sie muss regelmäßig mit Samen gefüttert werden. Wenn wegen fehlender sexueller Aktivität der Nachschub ausbleibt, begibt sich die Gebärmutter hungrig auf die Suche nach Nahrung. Sie wandert durch den Körper und landet schließlich im Gehirn. Dort beißt sie sich fest und die Frauen rasten aus. Noch in Meyers Konversations-Lexikon in der Ausgabe von 1876 liest man: „Überhaupt beruht die Hysterie oft auf dem dunklen Gefühl und dem niederschlagenden Bewusstsein eines verfehlten Leben, wie es zum Beispiel eintritt, wenn die Ehe nicht den gemüthlichen Anforderungen entspricht, zu welchen die Frau berechtigt ist.“
Es muss ein solcher Mechanismus sein, der von der deutschen Volksseele beim Anblick Karl Theodor zu Guttenbergs Besitz ergriffen hat. Die Politiker kommen den „gemüthlichen Anforderungen“ ihrer Wähler nicht nach, und die verschwenden dann ihr sehnsüchtiges und ausgetrocknetes Herz an die oberflächliche Männlichkeit dieses Barons, auf den die Worte aus dem Film Schtonk passen, die eine Christiane Hörbiger voller begeistert-bebender Anerkennung zu Götz George sagt: „Sie – Sie sind ja ein ganz schmieriger Typ!“
Als hätten sie den Weltgeist gesehen
Die davon nicht Erfassten sollten es sich nicht zu leicht machen. Es genügt nicht, den Kopf zu schütteln und mit Des Barreaux zu murmeln: „Tant de bruit pour une omelette.“ Wir lernen etwas über den deutschen Nationalcharakter. Wir hatten schon fast vergessen, dass es den überhaupt noch gibt: abgeschliffen in zwei verlorenen Kriegen und der großen Spaltung, der Rest aufgelöst im globalen Kapitalismus. Dachten wir. Aber die causa Guttenberg erinnert daran: Das deutsche Volk ist eben doch eine „Pflanze der Natur“ wie Herder sagte, der deutsche Experte fürs Nationale. Mit Blick auf die vergangenen Wochen mag es einem so vorkommen, als hätten die Deutschen in Guttenberg den Weltgeist gesehen. Was hat er bei den Deutschen freigelegt? Das Unbehagen an der Normalität, die Traurigkeit über die Entzauberung der Welt, mit einem Wort: die Neigung zur Romantik.
Das nimmt den strengeren politik- und gesellschafts-wissenschaftlichen Erklärungsmustern für dieses Phänomen der kollektiven Gefühlswallung nichts an Geltung: Mit den Begriffen Postdemokratie und Berlusconismus lässt sich beschreiben, wie das demokratische Wesens eines Systems verkümmert und durch massenmediale Willkür ersetzt wird. Deutschland ist da nicht allein. Das betrifft viele Länder des Westens. Die Erinnerung an die deutsche geistesgeschichtliche Tradition der Romantik erschließt eine zusätzliche Ebene des Verständnisses.
Die Demonstrationen, zu denen Guttenbergs Getreue am vergangenen Wochenende aufgerufen hatten, waren nicht gut besucht. Es gab keine Massenschwüre auf freiem Feld, und Choralgesang in den Kirchen gab es auch nicht. Wir haben mit dem Freiherren zwar eine Rückkehr des Körpers in der Politik erlebt. Aber ihre eigenen Körper wollten seine Anhänger nicht in Bewegung setzen. Der Wutbürger demonstriert auf der Straße. Der Sehnsuchtsbürger träumt zuhause. Er träumt vom Ende des Streits. Davon, dass aller Zwist endlich in einer Einheit aufgehen möge. Er träumt von der blauen Nacht der Demokratie. Von der Überwindung des Politischen. Nachdem Hitler die Macht übernommen hatte, schrieb Sebastian Haffner: „Es war, man kann es nicht anders nennen, ein sehr verbreitetes Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie.“ Das ist die deutsche Abscheu für die Sphäre der Politik.
Eine Art fröhlicher Faschismus
Mit der Überwindung des Politischen geht im romantischen Traum auch die Sehnsucht nach der Überwindung des Gesetzes einher. Und nach seinem Überwinder. Dem Mann, der die Regeln ungestraft brechen darf, die uns Sterbliche täglich knebeln. In diesem Sinne durfte auch Helmut Kohl sich über das Gesetz stellen und die Namen seiner geheimnisvollen Spender verheimlichen.
Das ist also, um es zusammenzufassen, eine Art fröhlicher Faschismus, dem da gefröhnt wird. Aber der Traumdeutsche will aus seinem Schlummer nicht geweckt werden: Die Hate-Mails, mit denen kritische Journalisten von Guttenberg-Anhängern überhäuft wurden, füllen Bände. Auch das hat eine lange romantische Tradition: Die Wut und die Verachtung, die den Aufklärern entgegengebracht werden. „Ich hasse die Menschen, die mit ihrer nachgemachten kleinen Sonne in jede trauliche Dämmerung hineinleuchten“ lässt Ludwig Tieck seinen William Lovell sagen. Auch die Polit-Romantiker von heute scheuen das Licht. Ebenso wie die Frage nach dem Grund für ihre Verehrung. Die Frage allein entlarvt den, der sie stellt, als Ungläubigen, als Unbekehrten. In seiner Studie über die Romantik schreibt Rüdiger Safranski über das grundlose Gefühl: „Es geht allein um die Intensität, die um so größer ist, je weniger Grund sie hat. Wenn etwas begründet ist, gibt es einen rationalen Rückbezug, der immer etwas Abklärendes, Moderierendes hat.“ Gerade in ihrer Grundlosigkeit begründet sich die Liebe.
Können wir am Ende sagen: Der Akt des Populismus ist vollzogen; der Baron hat seine Schuldigkeit getan; das gierige Tier der deutschen Sehnsucht ist gesättigt – fürs erste?
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