Man muss den Leuten nur lange genug erklären, dass sich das Politische verabschiedet hat, dass die großen Fragen geklärt sind, dass es ums Verwalten geht und nicht ums Gestalten – und dann bleiben die Leute zuhause. Noch nie war die Wahlbeteiligung so niedrig. Wir nähern uns einer politischen Kultur, in der ein Drittel der Wahlberechtigten sich nicht zuständig fühlt. Wer dafür verantwortlich ist? Die Politiker sind es und die Journalisten. Nach der Sommerpause, als klar wurde, dass Merkel und Steinmeier uns um den Wahlkampf betrügen würden, geschah etwas Verwunderliches. Die Journalisten der großen Zeitungen begannen, ihren Lesern zu erklären, dass die Ruhe, die Stille, die Eintracht nicht nur kein Makel dieses Wahlkampfes seien, sondern, ganz im Gegenteil, „ein Zeichen von Einigkeit, Gereiftheit und Stabilität“. So Berthold Kohler in der FAZ. „Pragmatischer und unpolitischer“ seien die Deutschen, schrieb Kohler – und kreidete es ihnen durchaus nicht an.
Es grenzt an Zynismus, Depolitisierung als zivilen Fortschritt zu begreifen. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung kam Nils Minkmar, einer der klugen jungen Köpfe der neuen journalistischen Neocons, geradezu ins Schwärmen: „So geriet dieser Wahlkampf zum politischen Äquivalent der fröhlichen Fußballweltmeisterschaft“. Fröhlich? Wer hat gesagt, Politik solle fröhlich sein?
Zu viele Journalisten sind mit dieser Koalition viel zu nett umgegangen. Von Anfang an. „Wir sollten sie wie rohe Eier behandeln“, hatte Hans-Ulrich Jörges vom Stern im November 2005 gefordert: „Diese Truppe ist das vorletzte Aufgebot der deutschen Politik, und ich will nicht, dass es kaputtgeschrieben wird, weil dann das letzte Aufgebot regiert.“ Dem hat sich die Mehrheit der großen deutschen Medien angeschlossen. Wahlen werden in der Mitte gewonnen, lehren die Spin-Doktoren. Und Auflagen auch.
Politiker wie Merkel und Steinmeier zerstören das demokratische Gewebe. Sie entpolitisieren. Sie bestärken bei den Menschen das Gefühl, Politik sei die Summe technischer Fragen, von denen sie wenig verstehen, die so komplex sind, dass man sie Fachleuten überlassen sollte. Das ist aber nicht wahr. Die Aufgabe der Politik liegt darin, die grundsätzlichen Wertentscheidungen klarzumachen und den Menschen zur Abstimmung zu präsentieren. Das geschieht aber nicht. Wir erleben, im Gegenteil, eine Verschleierung der Wertfragen, eine Überdeckung der Konflikte, eine Verschiebung ins Nebelige. Aufgabe der Journalisten müsste es sein, diesen Mechanismus aufzudecken. Aber es regiert die Kumpanei.
Geht es um nichts mehr? Sind alle Fragen geklärt? Liegen die Richtungsentscheidungen in der Vergangenheit? Wiederbewaffnung, Mitbestimmung, Notstandsgesetze, Ostverträge, Nachrüstung – darum wurde früher gekämpft. Und heute? Klima, Finanzkollaps, Afghanistankrieg, soziale Gerechtigkeit, Bildung, bürgerliche Freiheit, Atomenergie – sind das keine Themen, um die es zu streiten lohnt? Gibt es da nicht fundamentale Gegensätze, die aufeinanderprallen? Es sind nicht die Themen, die sich gewandelt haben. Es ist die politische Kultur. Sie ist konservativ geworden, unkritisch, bequem. Es lohnt sich, daran zu erinnen, dass die Interessengegensätze zwischen oben und unten keineswegs überwunden sind. Der Bankvorstand und der Schalterangestelle werden nie das gleiche Interesse haben. Der Grundkonflikt zwischen den Gewinnern der Globalisierung und den Verlierern, zwischen denen, die herrschen und wissen, und denen, die beherrscht werden und nicht wissen, bleibt bestehen. In dem Film „Die üblichen Verdächtigen“ heißt es: „Der größte Trick, den der Teufel je gebracht hat, war, die Welt glauben zu lassen, es gäbe ihn gar nicht.“
Jakob Augstein über die Entpolitisierung der Politik
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