Das Handelsblatt veröffentlicht regelmäßig eine Liste der bestverkauften Wirtschaftsbücher in Deutschland. Platz eins belegt zur Zeit das neue Buch von Sahra Wagenknecht. Reichtum ohne Gier. Auf Platz zwei folgt Carsten Maschmeyers Die Millionärsformel. Man sieht: Wenn der Deutsche es sich aussuchen könnte, er würde beides wählen: Millionär sein und dabei ein anständiger Mensch bleiben. Nicht nur eine Figur wie der zwielichtige Selfmade-Man Maschmeyer beflügelt die Fantasie der Leute, sondern auch die Gestalt der geheimnisvollen Linken Wagenknecht. Revolution hin oder her, auch der Buchmarkt ist nur ein Markt und der Kapitalismus kennt manchmal eine feine Ironie.
So eine Politikerin gibt es in Deutschland kein zweites Mal. Niemand wirkt so fremd und unnahbar wie die alterslose Frau aus dem Osten. Aber wenn die Deutschen sich eine Lieblingslinke wählen sollten, dann wäre es Sahra Wagenknecht. Schon weil sie so ordentlich ist. „Ihr herrlicher Bertha-von-Suttner-Style“, hat der Journalist Moritz von Uslar in der durch und durch bürgerlichen Zeit einmal gejubelt. Und ausgerechnet der bayerische CSU-Brocken Peter Gauweiler fand gar nicht genug begeisterte Worte, als er Wagenknechts Reichtumsbuch rezensierte. Das größte Lob aber bewahrte er sich bis zum Ende auf: „Alles in unvergleichbar bessererzogener und -gesetzter Form, als wir Westler es von unseren alten 68ern mit ihrem undurchdachten Schmaddertum gewohnt waren.“ Wenn schon links, dann bitte mit Manieren.
Freitag-Serie
Authentisch, links, unangepasst: Wir porträtieren fünf Köpfe, die sich gegen das Polit-Establishment gestellt haben und damit ziemlich erfolgreich sind. Es geht eben doch anders
Wagenknecht, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auch schon ganze Seiten über Goethe vollgeschrieben hat, erlaubt es dem deutschen Bürger, wenigstens ästhetisch seinen Frieden mit der Linken zu machen. Das ist schon mal was. Aber es geht noch mehr. Früher war Wagenknecht prominentes Mitglied der Kommunistischen Plattform der Linkspartei. Aber wenn die Berliner Morgenpost sie heute wohlig schaudernd fragt: „Sind Sie Kommunistin geblieben?“, dann antwortet sie in aller Gelassenheit: „Nein, jedenfalls nicht in dem Verständnis, dass ein Kommunist jemand ist, der sich die DDR oder das Modell einer zentralisierten Planwirtschaft zurückwünscht.“
Ein gefundenes Fressen
Kommunistin ist sie nicht mehr. Manche bei den Linken fragen sich, wie links Wagenknecht überhaupt noch ist. In ihren Büchern und Reden lobt sie Ludwig Erhard über den grünen Klee und CSU-Mann Gauweiler bestätigt ihr schriftlich, „dass sie – bei aller Linksheit – mit Haltung und geradem Rücken etwas retten will, was uns allen wichtig ist: Marktwirtschaft und Demokratie“. Das ist verwirrend. Von wegen Verstaatlichung. Wagenknecht schreibt: „Märkte darf man nicht abschaffen, im Gegenteil, man muss sie vor dem Kapitalismus retten. (…) Wir brauchen, was die Neoliberalen sich so gern auf die Fahne schreiben, aber in Wirklichkeit zerstören: Freiheit, Eigeninitiative, Wettbewerb, leistungsgerechte Bezahlung, Schutz des selbst erarbeiteten Eigentums“. Selbst der Wirtschaftsprofessor Hans-Werner Sinn zeigte sich besonders erfreut darüber, dass Wagenknecht geradezu „ein Loblied auf den Ordoliberalismus“ angestimmt hätte.
Dass sie einen weiten Weg zurückgelegt hat, würde Wagenknecht als Letzte bestreiten. Als sie eine junge Frau war, im Jahr 1992, verfasste sie einen Text, den ihr die westdeutschen Zeitungen – man muss das jetzt mal so nennen – immer wieder vorgehalten haben. Marxismus und Opportunismus hieß der Essay, der damals in den Weißenseer Blättern erschien, einer kommunistischen Splitterpostille. Der Text war ein gefundenes Fressen für Westjournalisten, die einer ostdeutschen Linken dafür nachstellten, dass sie sich ihren Sozialismus trotz aller historischen Erfahrungen nicht madig machen lassen wollte. Zwar dürften die wenigsten Kollegen vom Spiegel und aus dem Hause Springer, die sich wieder und wieder genüsslich darüber hermachten, mit den Feinheiten der Lehren von Kautsky und Bernstein vertraut gewesen sein. Aber ihnen genügten Absätze wie dieser:
„Die DDR der 60er Jahre bot das Bild eines hoffnungsvollen Staates von enormer Produktivität und Stabilität, von wachsender Ausstrahlungskraft, ungebrochener Zukunftsgewissheit und scheinbar grenzenloser Entwicklungsmöglichkeit.“
Wagenknecht zeigte sich im Alter von 22 Jahren als Fan des früheren Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht und seines „Neuen Ökonomischen Systems“. Sie nannte es „die zukunftsträchtige Form (…), wie Volkseigentum und gesamtgesellschaftliche Planung mit flexibler Entscheidungsfindung und dem Eigeninteresse der Leiter und der Kollektive zu verbinden sind“.
Es half ihr nichts, wenn sie später entnervt zurückfragte, ob Angela Merkel sich eigentlich auch für Äußerungen rechtfertigen müsse, die Jahrzehnte zurückliegen. Aber gleichwohl ist die Frage erlaubt: Was ist aus Wagenknecht geworden? Hat sie ihre linke Seele verkauft und den dialektischen Materialismus gegen schnöde materialistische Dialektik eingetauscht? Oder folgt die Anverwandlung bundesrepublikanischer Mythen einer Strategie der subtilen Revolution von innen? Bewegt sich die Revolutionärin Wagenknecht wie ein Fisch im Wasser deutscher Bürgerlichkeit?
Es hat noch niemand am Verstand dieser Frau gezweifelt. Manchmal, wenn sie wieder in einer Talkshow sitzt, geht der intellektuelle Hochmut mit ihr durch. Das Laster vieler Leute, die es gewohnt sind, die Klügsten im Raum zu sein. Sie gibt sich dann keine Mühe, ihre Überlegenheit mit Ironie oder Charme zu bemänteln. Ironie und Charme stehen ihr in Wahrheit auch nicht zu Verfügung. Die Oberfläche, die sie der Welt zeigt, ist glatt, gerade und kühl. Aber sie sieht einfach zu gut aus, als dass sie in den vergangenen Jahren den Männerfantasien der Berichterstatter hätte entgehen können, die in der ordentlichen Ostdeutschen irgendein orientalisches Feuer vermuten, ein Erbe des iranischen Vaters, der die Tochter früh zurückgelassen hat – weiteres Merkmal dieser Vita, das Laienpsychologen geradezu herausfordert.
Mit Hallodri und Hegel
Eine Sehnsucht nach dem Unruhigen muss es wohl geben in diesem Leben. Der erste Mann war ein Filmproduzent, der in Irland lebt und ein paarmal mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Die Staatsanwaltschaft Köln ermittelte gegen ihn, weil er irgendwelchen sehr reichen Leuten ein Ölgemälde der Heiligen Apollonia – das war eine zahnlose Jungfrau, die lieber ins Feuer sprang, als ihrem Glauben abzuschwören – als echtes Bild von Leonardo da Vinci angeboten haben soll. Und zwar für 46 Millionen Dollar. Wagenknecht sagte damals: „Es gibt zwei Darstellungen des Sachverhalts. Und es liegt doch auf der Hand, welcher ich glaube – der meines Mannes!“
Es fällt schwer, sich die Hegel, Kant und Spinoza lesende Intellektuelle an der Seite eines halbseidenen Hallodris vorzustellen. Andererseits hat sich diese Intellektuelle im Jahr 2013, da war sie immerhin schon 44 Jahre alt, für eine Fotostrecke der Zeitschrift Gala in Pose und Kostüm der mexikanischen Malerin Frida Kahlo ablichten lassen. Die war zwar eine aufrechte Marxistin, aber Wagenknecht im Folklore-Look, das war mehr als unerwartet. Auf die Frage, wie sie denn so als Mensch sei, antwortete Wagenknecht im besten Boulevardstil: „Sehr emotional, jemand, der auch weinen kann, der Glück, Harmonie und Zuspruch braucht. Vieles an dem öffentlichen Bild ist verzerrt. Es scheint, dass ich alles im Griff habe. Das muss man als Politiker ja auch versuchen.“
Wagenknecht ging noch weiter. Sie erzählte der Gala von ihrem gescheiterten Kinderwunsch. „Ich wollte nur, wenn ich ein Kind bekomme, dann auch für das Kind da sein und Zeit für es haben. Deshalb habe ich es immer wieder verschoben. Ich dachte immer, es kommt noch mal ein besserer Moment. Und irgendwann habe ich gemerkt, dass die Zeit vorbei ist.“ „Schmerzt Sie das heute?“ „Schon. Sicher, ich habe viele andere Dinge in meinem Leben, aber das ist schon etwas, das fehlt. Und natürlich frage ich mich: War das richtig? War die Politik, die Dissertation, die Bücher – waren die wichtiger? Ich glaube, das kennen viele Frauen. Plötzlich steckt man in den Vierzigern und es ist zu spät.“
Brief an die „liebe Sahra“
Diese Offenheit wäre für jeden Politiker ungewöhnlich gewesen. Bei Wagenknecht verblüffte sie noch mehr. Aber es war der September der Bundestagswahl. Und Wagenknecht wird nicht zufällig so kurz vor der Wahl ein so ungewöhnlich freizügiges Gespräch ausgerechnet mit einer solchen Zeitschrift geführt haben. Und doch hatte man damals den Eindruck, dass sie ihr echtes Mitteilungsbedürfnis mit der politischen Opportunität einer solchen home story gleichsam nur tarnen wollte. Man tut Wagenknecht nicht Unrecht, wenn man vermutet, dass sie sich in solchen Fragen auch von ihrem zweiten Mann beraten lässt: Oskar Lafontaine. Der weiß nun wirklich, wo der Barthel den Most holt und war sich in seiner langen Laufbahn für keinen Ausflug in populäre Untiefen zu schade, Hauptsache, es gab dort Erfolg zu fischen.
Ihre Ausflüge in ordoliberale Argumente und boulevardeske Magazine haben Wagenknechts Anhänger ihr immer verziehen. Wenn eine der ihren dem westdeutschen Affen mal Zucker geben kann, warum nicht? Aber in jüngster Zeit ist Wagenknecht so weit gegangen, dass sie selbst alte Weggefährten aus den Augen verloren hat. Auf der Webseite der Antikapitalistischen Linken wurde ein offener Brief an die „liebe Sahra“ veröffentlicht, in dem sie aufgefordert wird, ihre Positionen „zu überdenken und zu korrigieren“. Es sei „nicht akzeptabel, dass du diese im Alleingang in der Öffentlichkeit propagierst“. Es geht um die Flüchtlingspolitik.
Da hat die Linkspartei ein Problem. Ein noch größeres als die übrigen Parteien: zu viele linke Wähler sind inzwischen vom antimuslimischen Ressentiment erfasst, das sich in Deutschland ausbreitet. Zu viele stimmen Thilo Sarrazin zu, der die Flüchtlingspolitik Angela Merkels für „den größten politischen Fehler seit Ende des Zweiten Weltkriegs“ hält. Wagenknecht will nicht wortlos zusehen, wie die Linke ihre Wähler an die AfD verliert. Sie hat sich für einen gefährlichen Kurs entschieden – sie will sich, was die Flüchtlingsfrage angeht, von den Rechten nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Also redet sie unbeschwert von „Kapazitätsgrenzen“, die es in Deutschland für die Aufnahme von Flüchtlingen gebe, und stellt im AfD-Jargon fest: „Wer Gastrecht missbraucht, hat Gastrecht verwirkt.“
Wagenknecht zieht ihre Lehren daraus, dass es der Linken in Deutschland bislang nicht gelungen ist, die Unzufriedenheit in produktive Politik umzumünzen. Der Aufstand der Ohnmächtigen wird bislang von einer Renaissance des Ressentiments befeuert und nutzt damit nur AfD und Pegida. Wagenknecht stellt dagegen ihre Forderung: „Die Linke muss wieder die Adresse für Protest werden.“
Politik, das lehrt die linke Theoretikerin Chantal Mouffe, kommt durch die gegenseitige – auch gefühlsmäßige – Abgrenzung kollektiver Identitäten zustande. Eine leidenschaftliche Politisierung fordert darum ein „Wir“ gegen „die Anderen“. Es sind aber in Deutschland die falschen „Anderen“ gegen die der Zorn des Populus sich wendet: die Schwachen, die Flüchtenden, die Fremden. Wagenknecht tut recht daran, mit dem Populismus zu experimentieren. Er könnte die Kraft freisetzen, die zur Erneuerung eines beschädigten Systems notwendig ist. Aber das große Rätsel – wie reitet man den populistischen Tiger, ohne ihm selber zum Opfer zu fallen –, kann Sahra Wagenknecht es lösen?
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