Die Gewalt der Moral

Stéphane Hessel Ein Nachruf auf den Mann, dessen Leben sich wie kaum ein anderes tief in den Strang des 20. Jahrhunderts gewoben hat
Stéphane Hessel
Stéphane Hessel

Foto: Boris Horvat/AFP/Getty Images

"Das Ende ist nicht mehr fern. 93 Jahre. Das ist ein bisschen wie die letzte Etappe.“ Mit diesen Sätzen begann der schmale Text, der Stéphane Hessel berühmt machte. „Empört euch!“ Aber was bedeutet Ruhm für diesen Mann? Als hätte er ihn nötig gehabt. Nicht die Welt hat ihm den Ruhm gegeben, sondern Hessel hat uns seine Weisheit gegeben. Es gibt nicht viele Leute, deren Leben sich so tief in den Strang des 20. Jahrhunderts gewoben hat, mit allen Hoffnungen, aller Gewalt, allen Enttäuschung und all der Phantasie. Dennoch hat seine Geschichte am Ende etwas Tröstliches gehabt, weil die Dinge gut werden können, durch den Schrecken hindurch.

Hessel, der das KZ Buchenwald überlebt hatte und später an der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen mitwirkte, hasste Gewalt. Aber im Jahr 2010 rief er in „Empört euch!“ zum Kampf mit moralischen Waffen auf, gegen die Selbsterniedrigung im Kapitalismus: „Das Interesse der Allgemeinheit soll über den Interesse des Einzelnen stehen, die gerechte Verteilung der Früchte der Arbeit soll wichtiger sein als die Macht des Geldes.“

Oskar Negt sagt: „Politische Moral bildet sich im Zustand der Empörung.“ Wo landen wir, wenn wir auf unsere Empörung verzichten? Wir hören dann auf, uns gegen die Entwürdigung zu stellen, die in den Verhältnissen liegt. Was für ein Aufruf!

Die Auflage von Hessels Schrift war für französische Verhältnisse so hoch wie die Auflage des etwa zur gleichen Zeit erschienenen unseligen Buches von Thilo Sarrazin. Auch diesem lag eine Empörung zugrunde. Aber der Deutsche empörte sich über Ausländer. Der Franzose hingegen über Ungerechtigkeit.

Wenn Hessel schrieb „Mein langes Leben hat mir eine ständige Abfolge von Gründen zur Empörung geliefert“, dann sprach da der Citoyen. Aus Sarrazin sprach der Bourgeois. Im deutschen Wort vom Bürger fallen diese gegensätzlichen Bedeutungspole zusammen, der Staatsbürger und der Besitzbürger. Ernst Bloch schrieb, dem Citoyen seien „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit inhärent aufgegeben.“ Dem deutschen Bourgeois hingegen Angst. Stéphane Hessel ist in der Nacht zum Mittwoch im Alter von 95 Jahren gestorben.

AUSGABE

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 9/13 vom 28.02.20013

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Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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