Wir wissen nicht, was in Berlin geschah. In einer Zeit, für die das Wort „postfaktisch“ erfunden wurde, ist diese Feststellung wichtig. Es gibt die Toten und die Verwundeten vom Breitscheidplatz, es gibt den Toten auf dem Beifahrersitz des Lastwagens. Es gibt die zertrümmerten Buden des Weihnachtsmarktes. Aber es gibt keinen Tatverdächtigen. Der kurzzeitig in Gewahrsam genommenen Pakistaner wurde entlassen. Er war es nicht. Dennoch passt das Ereignis von Berlin so sehr zu unseren Erwartungen, dass wir längst zu wissen glauben, was geschehen ist: Ein Muslim hat den Anschlag verübt, auf den Deutschland schon so lange wartet. Beinahe eine Erlösung. Endlich ist das eingetreten, was Sicherheitsexperten schon lange vorhersagen. Statt von Entsetzen ist da
das Land darum von grimmiger Entschlossenheit erfasst.Der Angriff auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin, bei dem zwölf Menschen ihr Leben verloren, war erwartet worden. Jeder wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis es auch in Deutschland einen Anschlag mit vielen Toten geben würde. Wenn Sicherheit bedeutet, dass der Terror keine Gefahr mehr darstellt, dann haben wir längst akzeptiert, dass es Sicherheit nicht geben kann. Wir wissen das. Warum sind wir dann so betroffen? Weil das Wissen um eine Möglichkeit und die Wirkung ihres Eintretens nicht dasselbe sind. Terrorismus ist vor allem eine seelische Prüfung. Bislang geht die deutsche Gesellschaft vorbildlich damit um. Contenance ist kein deutsches Wort. Aber offenbar eine deutsche Eigenschaft. Wird das auch weiterhin gelten?Wir haben uns schon seit so langer Zeit auf diesen Tag vorbereitet, dass die Feststellung beinahe verwundert: Der Angriff auf den Berliner Weihnachtsmarkt ist der erste schwerwiegende Anschlag in Deutschland seit Jahrzehnten. Es gab auch schon vorher verletzte Opfer und getötete Angreifer – aber seit dem Anschlag auf das Oktoberfest 1980 keine Attacke mit so vielen Toten, solcher Verwüstung, solcher Brutalität wie jetzt in Berlin. Der Terror ist nun endgültig nach Deutschland gekommen.Die Macht des TerrorsEs gehört zum Wesen des Terrors, dass nach einer Tat nicht die Opfer im Mittelpunkt stehen, sondern die Überlebenden. Wären die Toten von Berlin Opfer eines Unfalls geworden – ein Fahrer rast in eine Menschenmenge nachdem er die Kontrolle über seinen schweren Lastwagen verloren hat – unser Mitgefühl wäre ganz bei den Verwundeten und den Angehörigen. Und niemand würde fragen: Droht uns das jetzt auch? Der Terror aber schiebt die Angst vor das Mitleid. Beides zusammen wird dann zur Wut. Darin liegt die eigentliche Gefahr des Terrorismus. Weit über seine tatsächliche Zerstörungskraft hinaus hat er die Macht, Gesellschaften zu verändern. Die USA haben sich bis heute nicht von den Angriffen des 11. September 2001 erholt. Sie wurden zu einem anderen Land. Auch wenn die Amerikaner das nicht wahrhaben wollen – der Terrorismus hat sie besiegt.Die Attacke von Berlin wird diese Wucht nicht entfalten. So grauenhaft sie für die Opfer und ihre Familien ist, ihr Ausmaß war zu begrenzt. Sie genügte aber für eine Positionsbestimmung. Wo in Deutschland die Grenze zwischen Zivilität und Brutalität verläuft, wurde erneut sichtbar. Marcus Pretzell, Chef der AfD in Nordrhein Westfalen twitterte nach dem Anschlag: „Wann schlägt der deutsche Rechtsstaat zurück? Wann hört diese verfluchte Heuchelei endlich auf? Es sind Merkels Tote! #Nizza“ Das sorgte für Ekel und Empörung bei der liberalen Mehrheit des Landes. Aber für die war die Äußerung auch nicht gedacht.Seehofers trübe SuppeAus der AfD waren schon im September Pläne bekannt geworden, jede Tat eines Flüchtlings direkt der Kanzlerin in die Schuhe zu schieben. Es gab aus der hessischen AfD einen regelrechten Antrag, Plakate vorzubereiten und nach einem Anschlag „an stark frequentierten Orten“ aufzuhängen, mit denen Angela Merkel zum Rücktritt aufgefordert werden sollte. Ein sonderbar altmodischer Vorschlag, für eine Partei, die ihr Wachstum aus den braunen Niederungen des Netzes bezieht.Berlin beweist aber auch, dass das rechte Ressentiment viel weiter reicht als der Wirkkreis der AfD misst. Es ist längst als Illusion entlarvt, dass Merkels Modernisierung CDU und CSU zu im Kern neuen Parteien gemacht habe. Auch CSU-Chef Horst Seehofer kochte auf den Trümmern von Berlin seine trübe Suppe. Seehofer forderte nicht weniger als eine Überprüfung und Neujustierung der deutschen Flüchtlingspolitik: „Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren.“Dabei spielt es weder für Seehofer noch für Pretzell eine Rolle, dass gar nicht sicher ist, ob der Anschlag überhaupt von einem Flüchtling verübt wurde. Auch das gehört zu den Elementen des Terrors: Ressentiment wird zu Realität. Aber auch die Bestwollenden können sich nicht dagegen wehren, dass der Terror ihnen Eindruck macht. Die Worte „Islam“ oder „Muslim“ stehen längst in dichter assoziativer Nachbarschaft zum Begriff Schrecken. Von Mal zu Mal wird nun bei uns auch das Wort „Flüchtling“ tiefer in den Schmutz der Gewalt gezogen. Und das Unvorstellbare – dass ein Mensch einem anderen das Leben nehmen will und dabei den eigenen Tod in Kauf nimmt – wird nicht nur zum Möglichen, sondern geradezu zum Erwarteten.