Was ist Gerechtigkeit? Da gilt, was Augustinus über die Zeit sagte: Wenn niemand nach ihr fragt, weiß man es. Muss man sie aber einem Fragenden erklären, fällt es einem schwer.
Viel einfacher ist es da zu sagen, was Ungerechtigkeit ist. Wenn jemand ohne Schuld seine Arbeit verliert, ist das eine Ungerechtigkeit. Und wenn dieses Schicksal 11.000 Frauen auf einen Schlag trifft, dann ist das eine große Ungerechtigkeit. Wenn jedoch ein Politiker diesen Frauen noch hinterherruft, sie sollten sich schleunigst um eine „Anschlussverwendung“ kümmern, wie FDP-Chef Philipp Rösler es getan hat, haben diese Frauen zum Schaden den Spott dazu. Und die Ungerechtigkeit wird zur Sauerei.
Die Frage, wer was bekommt und ob das gerecht ist – die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit also –, ist sehr alt. Die deutsche Antwort darauf hat sich in den vergangenen Jahren verschoben. Was ist denn gemeint, wenn man vom „sozialen Abbau“ spricht? In Wahrheit nichts anderes als eine moralische Degenerierung. Mit dem Lebensstandard der Armen sinken die Maßstäbe die Reichen. Die große Umverteilung, die wir seit vielen Jahren erleben, bezieht sich nicht nur aufs Geld. Nicht nur materielle Werte werden von unten nach oben verteilt, sondern auch die moralische Wertigkeit. Wer viel verdient, so lautet diese neu-calvinistische Moral, verdient eben auch viel.
Diese Umverteilung ist real. Das ist keine Frage des ideologischen Standpunkts. Wir haben uns schon so daran gewöhnt, dass wir sie nicht mehr für einen Skandal halten, obwohl sie das eigentlich ist. Wo ist das Wachstum der vergangenen 15 Jahre geblieben? An den mittleren Einkommensgruppen ist es vorbeigegangen. Die unteren haben verloren. Nur die oberen, die haben gewonnen. Im Durchschnitt sind die Löhne seit dem Jahr 2000 um fast drei Prozent gesunken, am stärksten zwischen 2004 und 2009. Das bleibt nicht ohne Folgen: „Wenn sich die Einkommen so unterschiedlich entwickeln, entstehen unterschiedliche Wertvorstellungen“, sagt der gewerkschaftsnahe Volkswirt Gustav Horn.
Wirtschaftlicher Erfolg und Gerechtigkeit sind kein Widerspruch
Der Fall der 11.000 Schlecker-Frauen ist ein krasses Beispiel für einen normalen Vorgang. So krass, dass er an eine Idee von Gerechtigkeit erinnert, die beinahe schon in Vergessenheit geraten ist.
Dabei ist Ungerechtigkeit beileibe kein notwendiger Teil unseres Wirtschaftssystems. Es ist auf Effizienz angelegt. Aber Effizienz und Gerechtigkeit berühren sich nicht. Der Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin hat das in der Sprache der Wirtschaftsphilosophie in einem Aufsatz vor Kurzem so formuliert: „Bei der Verteilung einer gegebenen Gütermenge auf Individuen ist Effizienz vollkommen verteilungsblind.“ Einfacher gesagt: Wirtschaftlicher Erfolg und gerechte gesellschaftliche Verhältnisse widersprechen sich nicht.
Wo ein solcher Widerspruch aufkommt, steht eine politische Entscheidung dahinter. Dass Schlecker eine Sauerei wurde, ist ein politisches Problem, kein wirtschaftliches. Der Unterschied ist wichtig. Anders als die FDP im Todeskampf es uns weismachen will, geht es hier nicht um unabänderliche Gesetze der Ökonomie, sondern um vermeidbare Fehler der Politik. Schlecker und das Schicksal der 11.000 Frauen sind kein Fall für den Taschenrechner, sondern für das Gesetzbuch.
Das Gesetz hat Anton Schlecker erlaubt, einen Konzern mit 36.000 Mitarbeitern und 6,5 Milliarden Euro Umsatz nach den gleichen Regeln zu führen, nach denen man üblicherweise einen Zeitungskiosk betreibt. Die FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat ihre Ablehnung für Schlecker-Hilfen damit begründet, dass für eine Drogerie mit 4.000 Filialen nichts anderes gelten dürfe als „für den Einzelhändler an der Ecke“. Auch diese Bemerkung war von besonderer Kaltschnäuzigkeit.
Aber sie traf auf ungewollte Art und Weise zu: Anton Schlecker stand im Handelsregister nur als eingetragener Kaufmann. Er brauchte keinen Aufsichtsrat, musste keine Zahlen offen legen und keinen Insolvenzantrag stellen. Die Linkspartei hat das neulich noch einmal bei der Bundesregierung nachgefragt und „mit freundlichen Grüßen“ bestätigt bekommen: Juristische Personen unterliegen nur dann der Insolvenzpflicht, wenn sie zahlungsunfähig sind; natürliche Personen können machen, was sie wollen. Hier hat die Ordnungspolitik versagt. Schlecker durfte alles mit sich in den Abgrund ziehen, so wie die Banken mit lebensgefährlichen Finanzprodukten hantieren durften. Beide, Schlecker und die Banken, übernahmen eine Verantwortung, die sie nicht tragen konnten: Verantwortung für das Gemeinwesen. Und dem Gemeinwesen bleiben am Ende die Kosten.
Eine solch passive Haltung des Staates hat mit Vernunft nichts zu tun, sondern sehr viel mit Ideologie. Nicht weniger, sondern mehr staatliche Intervention im Wirtschaftsleben täte Not. Wenn die Deutschen das Wort Fünf-Jahres-Plan hören, denken sie an die DDR und winken ab. Sie sollten lieber weiter nach Osten gucken. „Hier glaubt niemand, dass industrielle Entwicklung automatisch funktioniert“, hat Kishore Mahbubani, der west-kritische Politikwissenschaftler aus Singapur, vor einigen Tagen in einem Interview gesagt: „Der Staat wird gebraucht.“
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