Eine Anekdote aus dem Leben Joachim Gaucks

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Der Staatsdiener

Staatsgegner, Staatsdiener Welche Rolle spielte Joachim Gauck wirklich in der DDR? Teile seiner Akte bei der Stasi und Vorwürfe eines Ex-Bürgerrechtlers werfen ein anderes Licht auf den Präsidentschaftskandidaten - demnach war der Staat auch sehr zufrieden mit ihm.


Joachim Gauck ist ein Mann der Ordnung: Die westliche Studentenbewegung von '68 war ihm suspekt, und die zeitgenössische Kapitalismuskritik hält er für "albern". Das ist bekannt. Dass er womöglich aus demselben Geist heraus mit der DDR-Opposition seine Probleme hatte, ist weniger bekannt. Ein Blick in die von der Stasi geführte Akte über Gauck, zeigt ihn von einer Seite, die heute im Schatten der allgemeinen Begeisterung liegt, mit der der neue Konsenskandidat für das Amt des Bundespräsidenten erwartet wird.

Auch Joachim Gauck, der einmal Herr der Stasi-Akten war, hatte eine Akte. Unter dem Namen "Larve" wurde er von der Stasi sechs Jahre lang in einem so genannten Operativen Vorgang bearbeitet. Das heißt, er wurde von Spitzeln überwacht, damit ihn der Staat einschätzen und beeinflussen konnte. Es lohnt sich, einen Blick in diesen Ordner zu werfen. Gauck hat nie behauptet, ein Oppositioneller gewesen zu sein. Laut Akte war er der Stasi zumindest in einem Fall dabei behilflich, gegen die Opposition vorzugehen. War dieser Pastor Gauck, der heute als moralische Instanz wahrgenommen wird, ein Werkzeug der staatlichen Interessen?

Rostock 1988. Die Stasi hat ein Problem: Im Juni soll in der ostdeutschen Hafenstadt der evangelische Kirchentag stattfinden. Im Jahr zuvor war aus einer solchen Veranstaltung in Ost-Berlin der Super-GAU der Staatsspitzel geworden. Alternative Gruppen hatten sich zur "Kirche von Unten" zusammengetan und den Kirchentag in aller Öffentlichkeit zum Happening der DDR-Opposition gemacht. Das sollte sich in Rostock nicht wiederholen. Hier hoffte die Staatsmacht auf Joachim Gauck.

Die Landeskirche hatte den Stadtjugendpfarrer mit der Organisation des Kirchentages betraut. Gleich zu Beginn der Vorbereitungen, noch im Herbst 1987, vermeldete IMS "Schehr", einer der zahlreichen auf Gauck angesetzten Stasispitzel laut der Akten zufrieden: "Zum Kirchentag 1988 in Rostock sagte Gauck eindeutig, dass 'wir' keinen sogenannten Kirchentag von Unten haben wollen. ... Und Rostock ist nicht Berlin - Gäste haben sich zu fügen und einzuordnen."
Ruhe und Ordnung

Im Mai 1988 soll sich Gauck nach Auskunft seiner Akte bei einem Vorbereitungstreffen in der Rostocker Christuskirche gegen die Ausnutzung des Kirchentages durch "Übersiedlungsersuchende" gewandt haben. Wörtlich soll Gauck geäußert haben: "Der Kirchentag 1988 ist zum Feiern da und nicht zum Demonstrieren."
Im Interesse von Ruhe und Ordnung musste Gauck freilich auch die eigenen Kirchenleute fürchten. Vor allem seinen alten Schul- und Studienfreund Heiko Lietz. Der, anders als Gauck, hatte schon immer Schwierigkeiten, sich an das DDR-System anzupassen und war 1981 sogar aus dem Kirchendienst entlassen worden. So wie sie Gauck "Larve" getauft hatten, gaben die Stasi-Offiziere dem Dissidenten Lietz in dessen Operativen Vorgang den aussagekräftigen Namen "Zersetzer".
Glaubt man der Stasi-Akte soll Gauck versucht haben, Lietz vom Kirchentag fernzuhalten. Als im Sommer 1987 die ersten Arbeitsgruppen gebildet wurden, war Lietz nicht dabei, und die Stasi notiert anerkennend, es sei "erkennbar, dass 'Larve' an keinen Themen interessiert ist, die sich offen gegen die staatlichen Verhältnisse in der DDR richten. Aus diesem Grund hat er den Lietz, Heiko ... anfangs nicht mit in den Vorbereitungskurs für den Kirchentag 1988 einbezogen." Damit aber nicht genug. Gauck soll keinen Zweifel daran gelassen haben, was er von Lietz hielt. So stellt es zumindest die Stasi dar: "Nach Meinung des 'Larve' hat Lietz zwei entscheidende Fehler: 1. Könne er selten das rechte Maß finden, schießt oft über das Ziel hinaus und stiftet durch sein Verhalten Verwirrung und Unstimmigkeiten. 2. Halte er die getroffenen Vereinbarungen und Abmachungen nicht immer ein und sabotiere dadurch konstruktive Arbeit."
Lietz hielt Gauck all die Jahre für seinen Freund
Gegenüber einem Spitzel, der als IM "Scheler" der Stasi Bericht erstattete, soll sich Gauck im Sommer ausdrücklich von Lietz distanziert haben: "...und immer wieder bekräftigte Gauck, dass er mit dem Herrn Lietz nichts gemein habe, dass er schon mehrere Gespräche mit Herrn Lietz geführt hat, dass dieser Mann keine Chancen hat, einen Kirchentag von Unten zu organisieren ...." Und für den September vermerkt die Akte dann noch mal klare Worte Gaucks: "Er bezeichnet den operativ bekannten Lietz, Heiko als 'Radikalen.'"
Lietz hielt Gauck all die Jahre für seinen Freund, und wenn er von dem Mann spricht, den er so lange kennt, der jetzt bald Bundespräsident werden soll, dann spricht er immer von "Jochen". Eigentlich möchte Lietz immer noch denken, dass Gauck sein Freund war. Aber heute sagt Lietz: "Gauck hat mir keinen reinen Wein eingeschenkt." In Rostock blieb alles ruhig.
In seinen 2009 erschienenen Memoiren räumt Gauck diesen Ereignissen nicht viel Raum ein. Er erinnert sich zwar gerne daran, wie er vor 40 000 Zuhörern sprach: ("Ich war unglaublich aufgeregt.") Zu den Verhandlungen im Hintergrund des Kirchentages verliert Gauck kaum ein Wort. Mit Blick auf die Ost-Berliner "Kirche von Unten" schreibt Gauck: "In Mecklenburg wollten wir eine ähnliche innerkirchliche Spaltung auf jeden Fall verhindern und entschieden uns, weder Themen noch Teilnehmer auszuschließen."
Das sieht Heiko Lietz anders: "Rostock war eine vertane Chance", sagt er heute: "Ich bin während des Kirchentages in meinen Möglichkeiten mich zu entfalten massiv eingeschränkt worden. Ich habe sehr genau gemerkt, dass ich von der Kirchenleitung ausgebremst wurde." Warum will Gauck sich heute daran nicht erinnern? "Er hat sich neu geschaffen, er hat sich aus seiner Vergangenheit herauskatapultiert", Lietz.

Von Gauck ging offenbar keine Gefahr für den Staat aus

Den Verlauf des Kirchentages fasst die Akte in dem knappen Satz zusammen: "Im Nachhinein lässt sich eindeutig aussagen, dass die Versprechen, die Gauck gegeben hat, auch von Herrn Gauck verwirklicht wurden." Im November 1988 beschloss die Stasi die Einstellung Operativen Vorgangs "Larve": "Im Rahmen der Vorgangsbearbeitung wurde ein maßgeblicher Beitrag zur Disziplinierung von Larve erreicht. Aufgrund des Bearbeitungsstandes kann eingeschätzt werden, dass von ihm derzeit keine Aktivitäten ausgehen werden, die eine weitere Bearbeitung im OV erforderlich machen." Im Klartext: Von Gauck ging offenbar keine Gefahr für den Staat aus.

Im Jahr 2000, als Gauck seinen Posten an der Spitze der nach ihm benannten Behörde aufgab, sagte er in einem Interview: "Eine wirkliche Erinnerungskultur ist in einem Volk erst dann auszumachen, wenn nicht nur der Intellekt die neuen Fakten begreift und sich aneignet, sondern wenn auch Elemente einer inneren Einkehr erfolgen. Dass der Einzelne sich fragt: Und ich? Wo war eigentlich meine Position innerhalb dieses Systems? War ich ein Täter? War ich ein Helfer, ein Mitläufer? War ich ein Zuschauer? Oder war ich ein Opfer? Manchmal ist man von jedem etwas gewesen."

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Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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