„Es ist meine Schuld“

Im Gespräch Über Sascha Anderson ist ein neuer Film gedreht worden. Mit Jakob Augstein spricht er über die Gegenwart und die Kraft der Lyrik
Ausgabe 44/2014
Reenactment: Anderson liest im aktuellen Film „Anderson“ aus seiner Autobiografie
Reenactment: Anderson liest im aktuellen Film „Anderson“ aus seiner Autobiografie

Foto: Edition Salzgeber

Im Anschluss an die Premiere des Films Anderson im Großen Saal der Berliner Volksbühne begann dieses Gespräch. Anderson ist ein Film über Sascha Anderson, logisch, und der zweite Teil einer sogenannten Trilogie des Verrats der Berliner Dokumentarfilmerin Annekatrin Hendel.

Jakob Augstein: „Vor dem Gartenhaus stehen drei Birken, die heißen Schuld und Sühne, ich weiß, welche die liebste mir ist.“ Diese schönen Zeilen von dir kommen im Film mehrmals vor. Richtig verstehen tut sie keiner, oder?

Sascha Anderson: Ich glaub, es ist o.k., weil es zumindest nicht missverstanden werden kann.

Wie findest du den Film denn?

Ich finde ihn nicht so berauschend – vor allem für mich. Aber damit kann ich leben.

Was hattest du erwartet?

Ich habe nichts erwartet. Am liebsten werde ich natürlich sympathisch, liebenswert, schön, jung dargestellt, aber das ist nun einmal nicht mehr möglich.

Du sagst, man müsse Innensicht und Außensicht auf die Dauer abgleichen.

Das war ein Irrtum. Man kann nur wahrnehmen, dass es eine andere Sicht auf das Selbst gibt als die des Ichs.

Als der Film im Frühjahr auf der Berlinale gezeigt wurde, sind viele Leute, die mitgemacht hatten, danach zusammen feiern gegangen. Ich war verblüfft: War nach dem Abschminken alles vorbei?

Es sind 25 Jahre vergangen. Das trägt zur Entspannung bei oder zur Selbstreflexion oder zur Selbstrelativierung. Aber es ist nicht so, dass sich alle innig in die Arme gefallen wären.

Was bedeuten dir diese 25 Jahre?

Es sind meine 25 Jahre, ich kann und will nicht mehr über andere sprechen. Aber das Jubiläum interessiert mich null.

Bei solchen Jubiläen wird die offizielle Lesart präsentiert, die man dann in Schulbüchern nachlesen kann oder in der Gedenkstättenkonzeption der Bundesregierung. Da ist festgehalten, dass es bei der Erinnerung um den „menschenverachtenden Charakter der kommunistischen Diktatur in der SBZ DDR“ gehen muss und dass „jeder Verklärung und Verharmlosung der SED-Diktatur und jeder Ostalgie entschieden entgegenzuwirken“ sei ...

Steht das im Grundgesetz?

Die Gedenkstättenkonzeption hat noch nicht ganz Grundgesetzcharakter, aber ...

Dann muss ich mich auch nicht daran halten.

Der Leiter des Forschungsverbundes SED Staat an der FU Berlin sagt, die Differenz zwischen Demokratie und Diktatur verschwinde hinter der Fassade von Alltag und Gesellschaft, deswegen sei es gefährlich, sich an Alltag und Gesellschaft zu erinnern. Siehst du das auch so, oder interessiert dich das alles gar nicht?

Das ist so eine ja-aber-Figur. Ich halte das für eine psychologische Kategorie, nicht für eine argumentative Möglichkeit. Ich bin nicht nostalgisch. Wenn ich das richtig erinnere, habe ich 36 Jahre in der DDR gelebt und jetzt 24 Jahre nicht mehr. Für mich war das die prägende Zeit. Egal, ob ich sie gut finde oder nicht, sie hat mich geprägt. Ich werd einen Scheißdreck tun, mich irgendeiner „Erinnerungskultur“ zu unterwerfen. Diese Begriffe zusammenzubringen – Kultur und Erinnerung –, das halte ich für schlimm.

Würdest du dich als politischen Menschen bezeichnen?

Ich hab tatsächlich einmal gedacht, ich sei ein politisch interessierter Mensch. Im Nachhinein fällt es mir schwer, mir das selbst zu glauben. Ich hatte früher bestimmte Vorstellungen, vielleicht auch Illusionen, die waren politisch geprägt. Aber wenn ich mit mir ehrlich bin, dann interessiere ich mich für nichts außer Lyrik.

Zur Person

Sascha Anderson wurde 1953 in Weimar geboren. Der gelernte Schriftsetzer gehörte zu den Protagonisten der DDR-Untergrundbewegung; er wurde nach dem Mauerfall als IM der Stasi enttarnt. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. seine Autobiografie Sascha Anderson . Heute lebt er als Layouter und Schriftsteller in der Nähe von Frankfurt am Main

Aber hast du nicht in gewissem Sinne auch Politik gemacht?

Ich war zumindest in ein sehr politisiertes System involviert. Ich habe Musik gemacht, weil ich meinte, dass man damit politische Aussagen treffen kann. Ich habe mich mit Bildender Kunst beschäftigt, weil ich damit eine Expression verband. Aber ich muss jetzt zugeben, dass mich die Politik selber überhaupt nicht interessiert.

Kennst du die Fälle der Linkspartei-Politiker Rüdiger Hoffmann und Renate Adolph?

Nein.

Das sind Landespolitiker aus Brandenburg, die vor ein paar Jahren als IMs enttarnt wurden. Hoffmann sagte: „Es stimmt nicht, dass ich IM Schwalbe war, das ist mir überhaupt nicht bewusst.“

Der Arme.

Adolf gab das zwar zu, wollte zur weiteren Aufklärung aber nichts beitragen: Es sei konspirative Arbeit, darüber redet man nicht.

Ach?!

Verstehst du Herrn Hoffmann, der sich nicht erinnert?

Nein.

Erinnert man sich immer?

Ja. Und da hilft auch keine Verdrängung. Es gibt tausend Selbstbegründungen, die einen immer auf die gute Seite stellen. Ich fand natürlich auch, dass ich auf der guten Seite stand – egal, wo ich jeweils war. Wann sind die enttarnt worden?

Im Jahr 2009 und 2010.

Alle Achtung, dann hatten sie immerhin 20 Jahre Zeit, drüber nachzudenken, ob sie eine intelligente oder blöde Antwort dafür geben, was sie getan haben. Also an mir sind die 20 Jahre nicht spurlos vorbeigegangen.

Und die Loyalität Renate Adolphs, über den Tod der Behörde hinaus, kannst du die verstehen?

Die Loyalität verstehe ich. Aber die endet doch irgendwann. Mit der Enttarnung, mit dem Ende der Institution, mit dem Ende des Staats. Konspiration! Ein verkackter Begriff. Konspiration heißt reine Belastung. Ich hab keine Lust, über solche Begriffe nachzudenken. Ich kann über mich selbst reden. Aber nicht weil ich ein Selbstdarsteller bin, sondern weil ich aus eigener Erfahrung nicht über andere rede.

Hatte man diese Loyalität gegenüber der Stasi, oder gegenüber den Leuten, die sie schickte?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich auf der einen Seite für das gelebt habe, was man so Kunst nennt. Und auf der anderen die Pflicht empfunden habe, diese Leute nicht zu belügen. Ich kann das jetzt nicht mehr gegeneinander abwägen.

Warum konntest du die Stasi nicht belügen?

Ich hielt mich damals für so intelligent, so klug, so gewieft, dass ich denen die Welt erklären könnte – und die Kunst und die Kunstszene erst recht. Also durfte ich sie nicht anlügen. Dann wäre ein Misstrauen zwischen meinen Führungsoffizieren und mir entstanden. Aber das war pure Selbstüberschätzung.

Haben sich denn die Leute, mit denen du da geredet hast, für Lyrik und Kunst interessiert?

Das kann ich nicht sagen. Ich weiß, dass einer meiner Führungsoffiziere, Herr Reuter, nach der Wende einen Roman geschrieben hat. Er rief eines Tages an und sagte, er würde sich gern mit mir in einer Autobahnraststätte treffen, konspirativ. Da bin ich sofort zu meinem Freund Papenfuß gerannt und hab gesagt: „Bert, es geht schon wieder los.“ Er meinte: „Fahr da mal hin.“ Ich bin also hingefahren, und mir ist der Schweiß ausgebrochen, wie nach meiner Enttarnung. Aber er überreicht mir nur ein Romanmanuskript. Aber ob er sich für Literatur interessierte, für Lyrik? Was weiß ich?

Du warst Dichter, Sänger, Künstler, aber die Berichte, die du geschrieben hast, sind nicht mehr in deiner Sprache, sondern in der der Stasi. Sonderbar, nicht?

Ich will niemanden schönreden. Aber es waren Menschen, und sie sind es. Ich kann nicht sagen, dass ich da keinen Menschen begegnet wäre. So klug ich mich selbst gefühlt habe, war ich doch nur altklug. Aber ich kann mich nicht in die reindenken. Das geht nicht.

Du hast dir über die keine Gedanken gemacht?

Ich hab mir keine Gedanken über die Menschen hinter der Führungsgewalt gemacht, nein.

Als du im Jahr 2002 dein Buch „Sascha Anderson“ veröffentlicht hast, schrieb die „Süddeutsche“, dass du dich mit keinem Satz aus der Verantwortung stiehlst und dennoch ein merkwürdiger Beigeschmack bleibt: „Einfach deshalb, weil er es geschrieben hat, weil jeder Satz ein Triumph über die Vergangenheit ist.“

Das ist ein idiotischer Satz. Jeder geschriebene Satz ist ein Triumph über die Vergangenheit? Das ist Unsinn.

Ich glaube, es geht darum, dass du dich im Schreiben deiner Vergangenheit bemächtigst und aus der Rolle des Geschundenen und des Niedergeworfenen aufrappelst. Du machst dich selber wieder zum Subjekt, das spricht, und bist nicht mehr nur das Objekt der Verurteilung.

Das ist für mich dreimal um die Ecke gedacht. Man triumphiert nicht über seine eigene Vergangenheit. Es gibt sicherlich unterschiedliche Ansätze beim Schreiben. Meiner war nicht mal therapeutisch. Die Therapie hatte ich hinter mir, als ich das Buch schrieb. Für mich ist Schreiben überlebenswichtig. Im Nachhinein ist das Buch für mich ein Steinbruch, aus dem alle Geschichten erst mal erzählt werden mussten, für alles was ich noch schreiben werde, wenigstens in der Prosa.

Es scheint ein Dilemma: Jemand wie du soll nicht schweigen, er soll reden. Andererseits sind die Leute dann aber nicht zufrieden, weil du als Protagonist eines abendfüllenden Filmes in Szene gesetzt wirst.

Das lässt sich nicht auflösen. Ich muss das Interesse, das andere an mir haben, nicht befriedigen. Da sage ich: Nehmt einen anderen. Ich hätte der Regisseurin sagen können, ich werde mich zurückziehen vom Schreiben, vom Leben, vom Denken. Aber was soll das?

An einer Stelle sagst du, die Erwartungen, die an dich gestellt werden, sind unmöglich zu erfüllen. Du könntest dich nicht selbst entschuldigen, das könnten nur andere. Aber du kannst um Entschuldigung bitten.

Aber ich kann nicht vor dem Kinopublikum oder vor überhaupt einem Publikum um Entschuldigung bitten. Reue ist etwas sehr Persönliches, geradezu Intimes.

Das verstehe ich.

Ich will meine Schuld behalten. Zum letzten Mal: Ich lebe mit meiner Schuld. Ich hab mein Gesicht 25 Jahre lang hingehalten und ich werde diese Schuld behalten. Ich lass mir das nicht wegnehmen.

Du hast Enkel, die ja schon ziemlich erwachsen sind. Was erzählst du denen eigentlich ?

Dass sie sich den Film anschauen sollen und wir hinterher darüber reden können. Wenn ihnen daran liegt.

Du erinnerst dich gewiss an die berühmte Rede von Wolf Biermann, die er im scharfen Anklägerton vorgetragen hat: „Rechtsanwalt Schnur, Waisenkind Böhme, der hochbegabte Poet Heinz Kahlau, der unbegabte Schwätzer Sascha Arschloch, ein Stasispitzel, der immer noch cool den Musensohn spielt und hofft, dass seine Akte nie auftauchen wird. Das MfS setzte seine Kreaturen überall an die Spitze der Opposition, um sie besser abbrechen zu können ...“ Was empfindest du, wenn du das heute hörst?

Weil ich wusste, dass wir darauf zu sprechen kommen, habe ich mir was rausgeschrieben: „Sie hielten mich für verrückt, wenn ich Ihnen auf die Frage nach meinem Namen antwortete, ich habe jeden Namen, den Sie mir gern geben würden. Das ist mein wahrer Name. Aber vielleicht sollten wir uns daran gewöhnen, dass die Unbestimmbarkeit ein positives Faktum, ein positives Wissenselement geworden ist.“ Das ist von Paul Valéry.

Das verstehe ich nicht.

Das macht nichts. Das war meine Antwort.

Im Film heißt es, „auch im Verrat schlummert große Kreativität“.

Nein, das glaub ich nicht. Ich bin natürlich mit dem Heiner-Müller-Satz groß geworden: „In den Zeiten des Verrats sind die Landschaften schön.“ Aber das meint eigentlich, in den Zeiten des Bewusstseins von Verrat sind die Landschaften schön. Eine solche Zeit kommt auf jeden Menschen, der älter wird und auf sich zurückblickt.

Ekkehard Maaß sagt, du habest ihn verraten und geschützt zur gleichen Zeit.

Die Staatssicherheit wollte justitiable Fälle haben. Alles andere war für sie uninteressant. Es ist eine Tatsache, dass die, über die ich gesprochen habe, dadurch auch geschützt wurden. Das ist ein Drahtseilakt. Aber ich habe gar keine Lust, jetzt wieder in so eine Selbstbegründung reinzufahren.

Es gibt ja die These, dass die Boheme, die Kunst- und Punkszene in der DDR nicht trotz der Stasi so fruchtbar waren, sondern wegen ihr.

Das ist totaler Unsinn, eine feuilletonistische Idiotie. Bloß ein ganz kleines Beispiel: In den 50er Jahren hat die CIA den westdeutschen abstrakten Expressionismus gefördert. Sie hat Strukturen für die westdeutsche Kultur geschaffen, Institutionen aufgebaut, Ausstellungen bezahlt, um die westdeutsche Kultur gegen den sozialistischen Realismus in Position zu bringen. Aber es wird doch niemand heute behaupten, irgendein Künstler sei von der CIA gesteuert worden oder ein Produkt der CIA.

Wo stündest du heute, wenn das alles nicht passiert wäre?

Dann wäre ich heute noch bei der Staatssicherheit.

Wenn du nie bei der Staatssicherheit angefangen hättest?

Entweder ich wäre Leser geworden oder Schreiber. Jetzt bin ich beides.

Was heißt das?

Dass der, der schreibt, nur deswegen schreiben kann, weil er liest. Literatur kommt von Literatur, und Leben kommt von Leben, und Kunst kommt von Kunst, Menschen kommen von Menschen, und so was kommt von so was …

… und Verstehen kommt von Erklären. Aber was, wenn du eine ganz andere Entscheidung gefällt hättest?

Meine Erfahrungen mit Entscheidungen sind verheerend. Vielleicht ist es bei anderen anders. Ich hab mich immer sehr, sehr schnell entschieden, ich habe in einem Entscheidungssturm gelebt. Vielleicht liegt es daran, dass andere nicht entschieden haben. Dann hab ich entschieden. Papperlapapp. Man entscheidet und dann geht’s vorwärts. Dann entscheidet man wieder, und es geht wieder vorwärts. Das hat mich fertiggemacht. Das ist zu Ende.

Eine letzte Frage: Du hast ja auch einmal im Gefängnis gesessen, was ist da eigentlich passiert?

Ich hab fünf Erzählungen geschrieben, die sagen dazu alles. Ich habe keine Lust, darüber zu reden. Tut mir leid.

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