Gibt es die Natur überhaupt?

Koch oder Gärtner Diesmal beschäftigt sich der Gärtner nicht mit Blumen oder Unkraut, sondern denkt über viel grundlegendere Fragen nach - etwa warum die Natur kein Gleichgewicht kennt

Liebe Gartenfreunde, unlängst war ich im Berliner Gorki-Theater und habe ein Stück gesehen, das von der Natur handelte und von der Natur des Menschen, von den Verletzungen, den inneren und äußeren, und ob sie heilbar seien. Sie verstehen, dass dieses Erlebnis hier berücksichtigt werden muss. Es fand danach ein Gespräch statt, zu dem das Theater zwei Experten eingeladen hatte. Einen Biologen und einen Psychiater. Das schien sinvoll, da sich beide Männer mit Versuchen der Heilung befassen. Der Biologe hatte an der Elbe den Verlauf eines Deiches verändert und dem Wasser mehr Raum gegeben. Der Psychiater ist im Osten Berlins mit Kindern und Jugendlichen befasst und arbeitet daran, ihre deformierten Seelen zu sich selbst zu führen.

Ich fand das ungewöhnlich spannend. Hier waren also zwei Fachleute, die es, jeder für sich auf seinem Gebiet, mit aus dem Lot geratenen Systemen zu tun haben, und die dort Ordnung bringen wollen. Aber die Ordnung soll hier eine natürliche sein. Es geht ja beiden um die Wiederherstellung von Natur, an der Elbe ebenso wie in der Seele. Sie haben also beide ein Bild dieser Natur im Kopf, ein Vorbild, nach dem sie tätig werden. Der Biologe träumt von Auwäldern, wo Flatter­ulmen, Schwarzerlen und Bruchweiden ein kaum zu durchdringendes Dickicht ergeben. Der Psychiater wünscht sich lebensfrohe Kinder in Lichtenberg, in denen Überzeugungen und Gefühle und Hoffnungen zu neuen Taten reifen. Aber beide wissen um die Hürden und Grenzen ihres Tuns: „Es ist Natur aus zweiter Hand, was wir hier machen“, sagt der Biologe. „Wir sind hier ein Reparaturbetrieb“, sagt der Psychiater.


Es gibt nämlich in Deutschland schon lange keine Auwälder mehr, wie sie dem Biologen vorschweben. Generationen von Ingenieuren haben Donau, Rhein und Elbe in immer engere Betten gezwängt, so dass die Flüsse, die sie einst waren, zu dem wurden, was im Behördendeutsch ganz richtig Wasserstraße heißt. Der badische Wasserbauer Johann Gottfried Tulla, der 1828 in Paris starb und nach seinem Tode hochgeehrt wurde, hat da Bahnbrechendes geleistet, wahrhaftig. Der Rhein war danach nicht mehr derselbe, die Lachse waren verschwunden und das Rheingold auch. „Tulla war der große Verbrecher am Rhein“, sagt der Biologe, der heute die Wasserbaukunst anwendet für das, was man „Renaturierung“ nennt.

Und die Erlebnis- und Empfindungsarmut der Jugendlichen in den sozial benachteiligten Vierteln ist ein lange bekanntes Phänomen, ebenso der Umstand, dass die Verschreibung von Ritalin sprunghaft zugenommen hat. Natürlich sei die Vernachlässigung ein Problem und das Fernsehen, sagt der Psychiater. Er kommt aus Dresden und da gab es früher zwei Fernsehprogramme und die Eltern hatten Zeit für ihre Kinder und alle sind zusammen in den Wald gegangen.

Wir haben alle solche Bilder vom natürlichen Zustand im Kopf. Das unbeherrschbare Dickicht der Auwälder, oder seelisch unbedenkliche Fernsehlandschaften mit nur zwei Programmen. Das sind so Ideale von Gleichgewichtszuständen. Es ist notwendig, solche Ideale zu haben. Der Biologe und der Arzt tun eine wichtige Arbeit und sie brauchen dafür ihre Leitbilder.

Die Natur kennt kein Gleichgewicht

Aber ich möchte darauf hinweisen, dass die Natur kein Gleichgewicht kennt und es streng genommen gar keinen Naturzustand gibt. Wir erzeugen ihn in unserer Vorstellung. Der Biologe tut das, wenn er an der Elbe nach seinen Vorstellungen einen Auwald anlegt, auf sechs von 1091 Flusskilometern. Weil er das für angemessener hält als den in Beton gepferchten Fluss – und weil der Auwald nebenbei vor den Gefahren des Hochwassers schützt. Und der Arzt tut das auch, wenn er seinen Patienten eine Kindheit vor dem Fernseher ersparen will, weil das nicht nur glücklicher macht, sondern sowohl gesundheitsprognostisch als auch kriminalpräventiv angeraten scheint. Wir sind eben allesamt Ingenieure, jeder in seinem Bereich und was wir für Natur halten, entsteht in unserem Kopf.

Als Goethe nach Italien reiste, brachte er die Natur, die er suchte, mit sich: Er hatte sie daheim auf den Bildern gesehen und wollte sie nun nur noch wiederfinden. Endlich notierte er am 1. November 1786 erleichtert in Rom: „Alles, was ich in Gemälden und Zeichnungen schon lange gekannt, steht nun beisammen vor mir; es ist alles, wie ich mir’s dachte.“

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Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

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