Jakob Augstein: Frau Käßmann, demnächst starten die Feierlichkeiten zum Luther-Jahr. Sind die 95 Thesen Luthers der Beginn der Reformation?
Margot Käßmann: Da müssten wir erst mal klären, ob Luther die Thesen ans Tor genagelt hat oder nicht. Die Historiker streiten nämlich darüber.
Ist das wichtig?
Ja, das ist ein ganz interessanter Streit. Manche sagen: Auf gar keinen Fall hat er genagelt, die Thesen wurden nur zur Disputation verschickt. Es gibt einen US-Historiker, der behauptet: Er hat sie mit Bienenwachs angeklebt. Wie auch immer: Er hat sie verbreitet am 31. Oktober 1517 und das bleibt ein Symboldatum. Obwohl die Reformation schon hundert Jahre vorher begonnen hat, mit Jan Hus und der böhmischen Reformation. Der hatte sehr viele ähnliche Ideen.
Macht es Sinn, Luther als einen Mann der Neuzeit zu bezeichnen?
Ich sehe Luther als Mann, der mit einem Bein noch tief im Mittelalter steckt, mit seiner Angst vor dem Teufel, vor dem Fegefeuer, mit seinem Antijudaismus. Aber mit seinem anderen Bein geht er sehr weit nach vorne in die Neuzeit, indem er sagt: Du als einzelner Mensch sollst dein Gewissen an der Bibel schärfen, und in Glaubens- und Gewissensfragen ist jeder Mensch frei. Das ist für mich der Schritt zur Aufklärung.
Die Kirche ist aber bei der Vermittlung dieses Gedankens nicht sonderlich erfolgreich.
Doch, ich denke schon, das hat unsere Gesellschaft langfristig geprägt. Es war sicher nicht so, dass früher alle Menschen tiefgläubig waren. Aber es war normal, in die Kirche zu gehen. Es gab am Sonntag sowieso nichts anderes. Kein Internet, kein Fernsehen, keine Sportveranstaltungen. Wenn du am Sonntag erfahren wolltest, was bei dir in der Stadt oder im Dorf los war, dann bist du zur Kirche gegangen.
Nach einer Umfrage der Evangelischen Kirche Deutschlands, EKD, reden selbst Kirchenmitglieder in ihren Familien kaum über Religion. Es ist fast peinlich.
Das kann ich nur schwer nachvollziehen, weil wir in unserer Gesellschaft derzeit sehr viel über Religion reden.
Aber immer nur über die Religion der Anderen.
Ja, es wird viel über den Islam gesprochen und ich bin überzeugt, dass die Angst davor bei vielen so groß ist, weil sie gar nicht wissen, was sie selber glauben.
Zur Person
Margot Käßmann, 58, ist Pfarrerin und war von 2009 bis 2010 Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands. Sie trat zurück, nachdem sie alkoholisiert Auto gefahren war. Nun ist sie „Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017“
Sie folgen Angela Merkel, die sagte: „Haben wir doch bitteschön die Tradition, mal wieder in einen Gottesdienst zu gehen oder ein bisschen bibelfest zu sein.“
Das sehe ich wie die Kanzlerin, obwohl ich nicht CDU-Mitglied bin. Ich finde, es gehört zur Bildung, dass man eine gewisse Ahnung hat, was in der Bibel steht und was christliche Tradition ist.
Warum ist das so wichtig?
Nur wer selber weiß, was Christsein bedeutet, kann Leuten wie denen von Pegida absprechen, dass sie für das christliche Abendland einstehen.
Sie sprechen Pegida das ab?
Ja. Das christliche Abendland steht für Barmherzigkeit, für Fremdenfreundlichkeit – und dafür steht Pegida nicht.
Wenn Sie sich öffentlich so äußern, folgt oft eine aggressive Gegenreaktion. Es ist viel mehr als Gleichgültigkeit oder Spott.
Das ist Wut, das ist teilweise sogar Hass. Mich erschreckt das. Ich habe etwa über das Wahlprogramm der AfD Mecklenburg-Vorpommern geschrieben, dass es eigentlich gar nicht zu dem Bundesland passt. Zum Beispiel werden dort 64 Prozent der Kinder außerehelich geboren. Aber die AfD will, dass die Mütter wieder schön zu Hause bleiben und am Herd sind.
Wie war die Reaktion?
Es gab massive Emotionen. „Du alte Kirchenziege, mach doch in Saudi-Arabien Urlaub“, gingen mich Leute an. Da ist oft mit Sachlichkeit nichts mehr zu machen.
Die Flüchtlingsfrage spaltet das Land. Geht ein ähnlicher Riss auch durch die Kirche?
Die Kirche ist bei diesem Thema so klar, wie ich es in kaum einer Frage bisher erlebt habe. Die katholische Bischofskonferenz hat sich positioniert. Und die Leitenden Geistlichen der EKD haben erstmals gemeinsam einen Aufruf unterzeichnet, in dem sie gefordert haben, den Flüchtlingen zu helfen. Aber auch die Kirchengemeinden vor Ort engagieren sich enorm. Das ist die gelebte Antwort der Christen auf Merkels „Wir schaffen das“.
Unsere Gegenwart erinnert aber fast schon ans 16. Jahrhundert: Religionskriege. Und wir dachten, das läge hinter uns. Wie ist das gekommen?
Wahrscheinlich durch die Verunsicherung der Menschen. Wenn wir 500 Jahre zurückgehen, da hat die Reformation von gebildeter Religion gesprochen: Du sollst selbst lesen, du kannst selbst denken, du darfst selbst fragen. Fundamentalismus mag keine Fragen. Glaub oder stirb – und wenn du das nicht glaubst, dann gehörst du nicht dazu. Deshalb denke ich, dass die Reformation heute eine große Bedeutung hat. Die Menschen müssen wieder mehr selbst denken.
Trotzdem wüsste ich gerne, wie Sie sich erklären, dass das Modell der Demokratie erodiert.
Ich bin eigentlich enttäuscht.
Warum?
Weil ich gedacht habe, die Menschen wüssten zu schätzen, was sie an dieser Demokratie haben. Stattdessen motzen sie und wählen eine antidemokratische Partei, angeblich nur um denen da oben einen Denkzettel zu verpassen.
Gehört das nicht zur Demokratie?
Das ist eine ganz merkwürdige Haltung. Ich glaube, es ist Angst. Die Welt ist global, die Leute haben gesagt, ich mag die Globalisierung, solange ich in die Türkei oder nach Marokko in den Urlaub fahren kann. Aber ich mag es nicht, wenn die anderen zu uns kommen. Ich erinnere mich an eine Szene, in der ein Mann schrie: Das sind alles Leute, die kommen aus unseren Urlaubsländern hierher. Als sei das eine Frechheit. Globalisierung ist aber keine Einbahnstraße.
Finden Sie das eigentlich gut, wenn eine Religion politisch Position bezieht?
Ich bin dankbar, dass wir eine Trennung von Kirche und Staat haben. Gleichzeitig lasse ich mir aber nicht sagen, dass die Kirche sich nicht politisch äußern dürfe. In der Bibel sagt Jesus: Wenn ihr einen Fremden aufgenommen habt, dann habt ihr mich aufgenommen. Deshalb finde ich, die Kirche hat politisch zu sein.
Manche Leute finden, die Kirche solle nur seelsorgerisch arbeiten.
Jede Woche bekomme ich einen Brief: Kümmern Sie sich doch bitte um das Eigentliche. Gemeint ist dann Verkündigung und Seelsorge. Aber ich kann mich nicht um die Seele der Menschen kümmern und sagen, alles wird gut im Jenseits – und die Welt hier geht uns gar nichts an.
Die protestantische Tradition in Deutschland ist eine andere. Luther hatte zwar ein schlechtes Gewissen, hat sonst aber nicht viel gemacht für die Bauern.
Es gibt einen protestantischen Untertanengeist, der sich auch durch die Geschichte zieht. Gleichwohl gibt es Lernfähigkeit. Luther selber war so eindeutig nicht, wie Sie es jetzt schildern. Er hat an die Fürsten geschrieben, dass sie die Bauern achten sollen, weil es um ihr Leben und ihre Rechte geht – später war es seine Angst vorm Chaos des Bauernkriegs, die ihn leider hat schreiben lassen: Die Fürsten hätten das Recht, dreinzuschlagen.
Es gibt in Frankreich Leute, die den Islamismus als sozialrevolutionäre Bewegung interpretieren. Wie stehen Sie dazu?
Ich halte das für eine völlig falsche Interpretation, denn sozialrevolutionär hieße ja auch sozial. Ich halte das für eine brutale Unterdrückungsbewegung, zuallererst für Frauen. Ich habe zum Beispiel keine Lust, mich unter schwarzen Tüchern zu verbergen, weil ein Mann Sexualitätsprobleme hat, wenn er nur die Haare einer Frau sieht.
Wir kommen zum Stichwort dieses Sommers: Burka-Verbot.
Das ist ein Nebenschauplatz. Ich habe mal ausgerechnet: Es gibt geschätzt 800 Burka-Trägerinnen in Deutschland. Das sind 0,001 Prozent der Bevölkerung.
Ein Zuschauer unterbricht Käßmann lautstark: Ich kann diese Lügen nicht mehr hören!
Käßmann: Sie können ja rausgehen, Sie sind ein freier Mensch in einem freien Land.
Ungefähr 20 Leute aus zwei Stuhlreihen erheben sich und skandieren: Heuchler, Heuchler, Heuchler!
Augstein: Das ist ja fantastisch. Können wir ganz kurz wissen, warum wir Heuchler sind? Nur damit wir das wissen.
Die Männer verlassen den Raum – und rufen dabei weiter: Heuchler, Heuchler, Heuchler! Augstein, Käßmann, hört gut her, die Zukunft ist identitär!
Augstein: Das ist die „Identitäre Bewegung“, das sind die Bodentruppen der AfD.
Was diese jungen Männer in Berlin 2016 von sich geben, das erschreckt mich.
Wo waren wir stehen geblieben? Genau: Ist der Protestantismus eine progressive Kraft?
Das hat er doch gerade bewiesen. Ich habe in tiefer Dankbarkeit gesehen, wie klar und deutlich die Kirche da ist.
Aber im Moment überholt der Papst Sie locker von links.
Da sage ich: Alle Achtung, das hätte ich nicht erwartet. Erst die Reise nach Lampedusa, eine Fußwaschung im Gefängnis. Und so wie er die mediale Karte spielt, spricht er für die Christen insgesamt. Ein älterer Mann aus Lateinamerika bringt Symbole und Klarheit, wie Christen sie gerne sehen wollen. Für mich ist das urchristlich.
Im Kanzleramt regiert eine Protestantin, die im Pfarrhaus groß geworden ist und wir haben einen Bundespräsidenten, der mal Pfarrer war. Zeigt das, wie wichtig das evangelische Pfarrhaus für die Kultur ist?
Ich finde das nicht sonderbar. Im Pfarrhaus wurde eben gelernt, einen aufrechten Gang zu gehen. Was nicht immer einfach war: Wir hatten viele Freunde in den ostdeutschen Pfarrhäusern. Die Kinder durften da nicht studieren.
Glauben Sie, dass bei Merkels Flüchtlingspolitik ihr kirchlicher Hintergrund eine Rolle spielt?
Das muss Frau Merkel beantworten. Ich kann nur sagen, dass ihre Reaktion damals zutiefst christlich war, als sie sagte: „Hier sind Menschen in Not, und Menschen in Not dürfen nicht abgewiesen werden. Da gibt es auch keine Obergrenze derer, die wir aufnehmen können, sondern im Moment muss erst einmal akut geholfen werden.“
Ist die AfD rassistisch?
Ja, sie macht Politik auf dem Rücken von Menschen, die hier sind. Sie stellt diese Menschen als Bedrohung dar. Ich fühle mich in meiner Freiheit nicht von den Menschen bedroht, die zu uns kommen, sondern von jenen, die uns anbrüllen oder Hassmails schicken.
Ist der Begriff Heimat etwas, mit dem Sie etwas anfangen können?
Ja, Heimat ist ein ganz wichtiger Begriff für mich.
Was sagen Sie denn dann Leuten, die Angst haben um ihre Heimat?
Dass ich in der Heimat nicht nur mit Blonden und Blauäugigen zusammenleben will oder mit Herrn Gauland – sondern dass ich mit Herrn Boateng sehr gut in meiner Heimat leben kann.
Wenn die Kanzlerin jetzt sagt: „Deutschland bleibt Deutschland, mit allem, wie es uns lieb und teuer ist“, glauben Sie das?
Das kann ja nicht heißen, alles bleibt, wie es schon immer war, das wäre merkwürdig. Wir müssen uns verändern, wir haben uns schon immer verändert. Nach 1918, nach 1945, nach 1989.
Ich glaube, diese Jungs, die hier aufgetreten sind, wollen nicht, dass sich etwas ändert.
Das finde ich ziemlich traurig. Wenn man so jung ist und meint, es darf sich nichts ändern – da ist man innerlich schon ziemlich alt.
Eine letzte Frage: Werden Sie Bundespräsidentin?
Es ist eine Ehre, dass mein Name genannt wird – aber ich bin viel zu undiplomatisch für so einen Job.
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