Heute schon erinnert?

Interview Aleida Assmann wünscht sich neue Formen des Geschichtsdenkens. Mit Jakob Augstein ist sie sich nicht einig, ob Denkmäler heute noch zeitgemäß sind
Ausgabe 25/2019

Um Erinnerung soll es gehen, um persönliche, aber auch die der Gesellschaft. Gibt es so etwas wie eine Erinnerungspflicht? Wie begehen wir eigentlich Gedenktage? Und warum spielte die Kolonialgeschichte im deutschen Erinnerungsrahmen so lange kaum eine Rolle? Über diese Fragen sprach Jakob Augstein am Schauspiel Köln mit der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, deren Spezialgebiet die Gedächtnis- und Erinnerungsforschung ist. Die 72-Jährige gilt als public intellectual, vergangenes Jahr erhielten sie und ihr Mann Jan Assmann gemeinsam den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Jakob Augstein: Frau Assmann, was versteht man eigentlich unter kollektivem Gedächtnis? Gibt es so was?

Aleida Assmann: Der französische Soziologe Maurice Halbwachs hat den Begriff geprägt und ist damals in den 1920er Jahren schon auf Missverständnisse gestoßen. Seine Kollegen warfen ihm vor, die Idee, dass Gruppen ein Gedächtnis hätten, klinge ein bisschen mythisch. Aber so hat es Halbwachs gar nicht gemeint. Er hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass jeder von uns nicht nur ein individuelles Gedächtnis hat, sondern auch viel von den Gruppen, denen er angehört, übernimmt – angefangen mit der Familie. Wir haben alle unsere eigenen Erinnerungen, aber auch die, die uns die Eltern oder Geschwister erzählen. Manchmal kann man das gar nicht mehr auseinanderhalten. Erinnern hängt ja sehr eng mit Erzählen zusammen: Sich selber darzustellen, etwas über sich zu erfahren und weiterzugeben. So hat jede Person unterschiedliche Gedächtniszusammenhänge, die auch die Gruppen einbeziehen, denen wir angehören, bis hin zum nationalen Gedächtnis.

Was halten Sie von Denkmälern?

Ich habe gerade den Künstler Jochen Gerz wiedergesehen, der zu denen gehörte, die uns Deutschen tatsächlich eine neue Denkmalkultur beigebracht haben. Seine verschwundenen oder versunkenen Denkmäler waren raffinierte Interventionen, die uns Mitte der 1990er Jahre plötzlich die Augen für das Verdrängte öffneten. Das Auffallendste an herkömmlichen Denkmälern ist ja, wie Musil einmal bemerkt hat, dass sie einfach nur dastehen und man sie nicht bemerkt. Man vergisst sie. Stolpersteine hingegen gehören zu diesen neuen Denkmälern, zu denen man nicht geht, sondern die zu einem kommen, bis vor die Haustür, und inzwischen in vielen Ländern Europas verlegt werden.

Aber in Heilbronn hat man vor ein paar Jahren die Namen jüdischer Soldaten wieder auf Denkmäler des Ersten Weltkriegs gesetzt, die unter den Nazis entfernt worden waren. Ein merkwürdiger Akt der Wiedergutmachung. Müsste man Denkmäler aus dem Ersten Weltkrieg nicht alle abräumen? Ich bin in Norddeutschland aufgewachsen, dort können Sie durch keine Kleinstadt, kein Dorf gehen, ohne dass irgendwo ein Felsen mit der Aufschrift „gestorben fürs Vaterland“ steht. Und man denkt: Hättet ihr mal lieber nicht gemacht.

Genau, das ist heute auch eine verständliche Reaktion. Aber wenn wir tatsächlich alles abräumen, was wir heute nicht mehr nachvollziehen können, dann haben wir auch keine Geschichte mehr. Bismarck ist so ein Beispiel. Er steht für das „Zweite Deutsche Reich“, das heute durch das „Dritte Reich“ überschrieben ist. Es gibt in allen Städten Bismarck-Plätze, Bismarck-Säulen, sogar -Türme. Die werden natürlich gebraucht, weil das hervorragende Aussichtspositionen sind und für den Tourismus von Interesse. Aber Bismarck ist im musilschen Sinne einfach unsichtbar geworden.

Aber Sie irren sich. Sie können in Hamburg nicht über die Reeperbahn gehen, ohne auf das Bismarck-Denkmal zu stoßen. Und es ist keineswegs unsichtbar, es ist monumental und monumental scheußlich. Oder es gibt am Dammtor diesen Block, um den auf einem Relief Soldaten marschieren. Die Inschrift lautet: „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“: ein unerträgliches Kriegerdenkmal mitten in einer Stadt. Das wollte man dekonstruieren, indem man ein Gegendenkmal von Alfred Hrdlicka daneben gesetzt hat, was ich auch nicht für so fürchterlich geglückt halte.

Als Erinnerungs- und Gedächtnisforscherin bin ich natürlich nicht dafür, dass man alles wegnimmt, sondern dass man sich mit der Fremdheit dieser Objekte auseinandersetzt. Seit dem Ersten Weltkrieg gibt es in Fußdistanz zu jeder Ortschaft Gefallenendenkmäler. Man musste diesen Soldaten etwas zurückgeben, also verewigte man ihre Namen. Diese Gefallenendenkmäler gibt es in allen Ländern Europas, aber Kriegerdenkmäler nur in Deutschland. Die sind bei uns nicht nach dem Ersten Weltkrieg, sondern vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden und waren eine Folge des „Mythos des Fronterlebnisses“ und des Heroenkults des NS-Staats.

In dem deutschen Erinnerungsrahmen spielt die Kolonialgeschichte bisher keine große Rolle. Da fängt das Erinnern erst an.

Nicht nur die Kolonialgeschichte, sondern das ganze Zweite Kaiserreich spielt gar keine Rolle. Wir sind geradezu fixiert auf das „Dritte Reich“, da ist das Zweite einfach völlig verschwunden. Aber meine Eltern sind da etwa noch hineingewachsen. Die haben am Sedantag schulfrei gehabt. Sie wuchsen in einer Welt auf, in der Deutschland gerade anfing, sich mit den großen imperialen Nationen zu messen. Hier in der Nähe, im Bergisch-Gladbacher Schulmuseum, gibt es eine Tafel, auf der steht: „Ehe der Morgen graut, hat der Kaiser schon an der Flotte gebaut.“ Wunderbare Aufschrift. Aber das ist das am tiefsten Vergessene, dass Deutschland mal zu einer großen imperialen Macht auflief, die am Tisch der anderen kolonialen Nationen einen Platz beanspruchte. Als wir uns dann von 2014 bis 2018 an den Ersten Weltkrieg erinnern sollten, da merkten wir im Vergleich mit anderen europäischen Nationen, dass diese ganze Geschichte im allgemeinen Bewusstsein der Deutschen verschwunden ist und auch in den Schulbüchern nicht mehr vorkam.

Mich wundert es ein bisschen, dass Sie das so drastisch sagen. Ich habe auch Schulkinder, den Ersten Weltkrieg haben die schon mitbekommen. Die sind jetzt nicht übermäßig begabt …

Natürlich, weil das Thema nach 100 Jahren in den Medien aufkam und viele Veranstaltungen gemacht wurden. Da haben wir uns alle daran erinnert. Aber in anderen europäischen Nationen hat diese Epoche eine ganz andere Bedeutung. In Belgien, Frankreich, England wird der 11. November 1918 bis heute jährlich gefeiert. Das blieb Familiengeschichte, nicht nur ein von oben gesteuertes nationales Gedenken. Jeder wusste etwas über seine Großeltern aus dieser Zeit. In Deutschland ist diese Tradition völlig abgebrochen.

Weil wir gerade über den Kolonialismus gesprochen haben: Sollte afrikanische Kunst restituiert werden?

In dieser Kürze möchte ich vielleicht mal sagen: Die Restitution als solche beendet die Sache nicht. Wir müssen inzwischen annehmen, dass unsere Geschichte, die bis heute wirksam ist, noch ein bisschen länger ist, als wir dachten, und bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht.

Das ist auch das, was Alexander Gauland sagt.

Genau, der möchte aber gleich 1.000 Jahre zurückgehen. Ich würde sagen, wir gehen erst mal einen Schritt zurück und nicht gleich zu den großen Kaisern, von denen er schwärmt, Barbarossa und Friedrich II. Diese wunderbare Kaiserromantik, die würde ich jetzt ungern heraufbeschwören. Beim letzten deutschen Kaiser fällt es ja auch schwer, ins Schwärmen zu verfallen. Der Historiker Jürgen Kocka hat einmal den Begriff „Beziehungsgeschichte“ geprägt. Auf Englisch spricht man von „entangled history“, verschlungener Geschichte, auf Französisch von „histoire croisée, gekreuzter Geschichte. Ich finde das einen ausgezeichneten Impuls für eine neue Form des Geschichtsdenkens. Anstatt dass man monologisch in den Grenzen der Nation denkt und nur fragt, was sie erlebt hat, denkt man über die Grenzen hinweg und schließt die Nachbarn und Opfer der eigenen Politik mit ein.

Es gibt ja nicht eine, sondern mehrere Erinnerungskulturen in Europa. Welche Vergangenheit wir in die Gegenwart holen und welche nicht – vor dieser Frage stehen viele Städte.

Ja, zum Beispiel Berlin. Das ist eine klassische Verdrängungsgeschichte, die sich hier vor unseren Augen abgespielt hat. Erst mal ging es darum, den Palast der Republik durch das Stadtschloss wieder zu ersetzen, womit ein wichtiger Teil der DDR-Geschichte verschwand und Berlin noch preußischer wurde. Rekonstruktion heißt: In der Mitte Berlins suche ich mir die Epoche aus, die ich gebrauchen kann.

Ich halte diese Rekonstruktion des Schlosses wirklich für einen der größten Unsinnsakte, denen ich in meinem Leben beiwohnen durfte. Das wurde ja gemacht, um auf etwas stolz sein zu können. Auf den Palast der Republik war man nicht stolz und hat auch nicht gesehen, dass eine Stadt aus Sedimenten besteht, aus sich überlagernden Texten. Kann man sich das so einfach aussuchen?

Eben nicht. Diese Geschichte der Rekonstruktion zeigt, dass man sich etwas aussucht und dabei gleichzeitig von etwas heimgesucht wird. Erinnerung lässt sich nicht so einfach steuern. Mit dem Humboldt Forum ist die verdrängte Kolonialgeschichte zurückgekehrt. Übrigens steht das Stadtschloss steht ja nicht alleine da. In den 1990er Jahren sind in Europa viele zentrale Gebäude, die längere Zeit verschwunden waren – meistens infolge des Krieges oder des Kommunismus –, wieder aufgebaut worden. Stalin hat zum Beispiel in Moskau die Christerlöserkirche beseitigt, um einen riesengroßen Stalinpalast hinzusetzen, was er aber nicht geschafft hat. Dann kam erst mal ein Schwimmbad und jetzt ist diese Christerlöserkirche wieder da – als Sinnbild der Stadt selbst. In Riga steht das Schwarzhäupter-Haus im Zentrum der Altstadt aus der alten Hansetradition. Man muss auch Warschau einbeziehen als Beispiel für das Wiederauferstehen von Altstädten bis hin zum Neuen Frankfurt. All das sind Beispiele für die Entscheidung: Mit welcher Schicht der Vergangenheit wollen wir leben, was wollen wir in die Gegenwart holen? So funktioniert das nationale Gedächtnis. Man glaubt, man könne das Gedächtnis unter die Kontrolle des Willens bringen. Aber so ganz einfach ist es nicht; genau das zeigt das Humboldt Forum!

Zur Person

Aleida Assmann, 1947 in Bielefeld geboren, war von 1993 – 2014 Professorin für Anglistik und Literaturwissenschaften an der Universität Konstanz. Sie veröffentlichte Arbeiten zur englischen Literatur, zur Geschichte des Lesens und zum kulturellen Gedächtnis. Sie hat fünf Kinder und lebt mit ihrem Mann in Österreich

Aber die Erinnerung der Nation, der Völker oder die Erinnerung der Gesellschaft spielt für die Identität eine große Rolle. Früher hat man sich nur an das Heldenhafte erinnert, heute fühlt man sich damit nicht mehr so richtig wohl, und man versucht beides. Schlechte Erinnerungen werden dann auch zu positiven. In der Debatte um das Holocaust-Mahnmal in Berlin sagte Paul Spiegel, damals Präsident des Zentralrats der Juden: „Von den Tätern ist hier gar keine Rede.“ Er meinte das als Kritik. Da stellt sich die Frage: Versuchen wir durch diese Form von Erinnerung auch noch auf die Opferseite zu wechseln? Wird selbst das Erinnern an die Verbrechen positiv umgedeutet?

Ihr Unbehagen, Herr Augstein, das kenne ich und kann es gut verstehen. Wie erinnern wir uns als Deutsche? Wie erinnern sich die Überlebenden und die Nachkommen der Überlebenden? Juden? Und wie erinnern sich die, die weder der einen noch der anderen Gruppe angehören? Ich habe mal versucht, diese unterschiedlichen Zugänge zu dieser Erinnerung für mich selber zu klären und bin dabei auf drei Begriffe gekommen: In Deutschland erinnert man sich in einem ethischen Modus, wie ich das nenne. Ethisch heißt: Wir wissen, dass wir die Täter waren, wir erinnern uns, um das nicht zu wiederholen, im Sinne der Prävention. Aber es ist immer an die Täterrolle geknüpft. In Israel erinnert man sich ganz anders, nämlich im Modus der Identifikation. Das sieht man nicht nur am Pessach-Abend, wenn dieser Personen gedacht wird. Sondern auch beim Marsch der Lebenden am „Jom haScho‘a“-Gedenktag, wenn die Nachkommen zusammen mit den Überlebenden diesen Weg von Auschwitz nach Birkenau gehen. Damit schreiben sie sich in die Gruppe der Opfer ein. Das meine ich mit Identifikation. Der dritte Modus ist die Empathie. Wenn man diese Geschichten hört und liest oder Filme sieht, dann kann man sich, egal, woher man kommt, individuell mit diesen Opfern identifizieren, ohne dabei zu vergessen, dass man nicht zu dieser Opfergruppe gehört. Man kann die Bedeutung dieser Erinnerung auch für sich selber anerkennen und wahrnehmen, unabhängig von Gruppenbindungen. Manche Kollegen sehen in der deutschen Erinnerungskultur auch einen neuen Stolz: „Wir sind Weltmeister im Erinnern!“ Ich würde dann sagen: Ja gut, wenn man vorher Weltmeister im Morden war, dann ist das vielleicht nicht die allerschlechteste Folge davon.

Heiko Maas sagte, er sei wegen Auschwitz in die Politik gegangen, nicht wegen Willy Brandt.

Das ist eine persönliche Entscheidung und ist verständlich für meine Generation. Noch mal zurück zum Erinnerungsstolz: Ich fände es falsch, mit dem, was hier in Deutschland geschehen ist, anderswo hausieren zu gehen und es zu einem deutschen Exportartikel zu machen. In anderen Ländern zeigt man allerdings gerade in diesem Sinne auf Deutschland und sagt: Dieses Erinnerungsmodell würden wir gerne kopieren. Susan Neiman, die in Potsdam das Einstein Forum leitet, schreibt gerade ein Buch mit dem Titel Learning from the Germans. Sie schreibt es, weil sie aus Atlanta kommt, aus den Südstaaten Amerikas, in denen der Rassismus teilweise ungebrochen weitergeht. Es gibt sehr viele Länder, in denen mit historischen Vergangenheiten nicht gebrochen wurde, wo sie also im Grunde nie beendet wurden, weil es keine Entscheidung und keine Form gab, sich als Gruppe geschlossen davon zu distanzieren.

Und welches Verhältnis sollen Migranten zu diesem Teil der deutschen Erinnerung haben – in einer Einwanderungsgesellschaft, in der es ja auch notwendig ist, eine gemeinsame Identität zu schaffen?

Die Migranten werden, wenn sie hierherkommen, so oder so mit der Geschichte dieses Landes konfrontiert. Denn man wandert nicht nur in ein Land ein, in einen geografischen Raum, sondern auch in eine Kultur und eine Geschichte. Die Erinnerung an diese Zeit ist präsent in Bauten, Denkmälern und Jahrestagen. Insofern ist es unumgänglich, dass auch sie damit in Berührung kommen. Ob sie sich nun daran erinnern wollen oder nicht, ist natürlich völlig ihnen selber überlassen. Wie es auch überhaupt jedem Deutschen, jeder Deutschen völlig überlassen bleibt, ob er oder sie sich daran erinnern möchte oder nicht. Es gibt hierzulande keine Erinnerungspflicht.

Ist das so?

Ja, es gibt keine Erinnerungspflicht für die Bevölkerung. Keine. Niemand würde an ihrer Haustür klopfen und fragen: Haben Sie sich heute erinnert? Heute war ein Gedenktag, was haben Sie heute gemacht? Haben Sie vielleicht ein Fußballspiel gesehen? Sie gilt nicht für die Bevölkerung, aber sie gilt für die Institutionen und Medien. Der Unterschied ist mir wichtig. Man sollte nicht so tun, als wäre das ein Zwang, der uns allen auferlegt wird, aber es ist eine Sache, die jeden potenziell angeht. Es ist auch eine eigene Entscheidung, sich dazu zu verhalten. Diese Offenheit ist mir wichtig.

Als die Bundeswehr sich damals am Angriff auf Jugoslawien beteiligt hat, wurde das auch mit Auschwitz begründet. Ist das schon Instrumentalisierung von Geschichte oder ist das Lernen aus Geschichte? Was bedeutet das eigentlich, Geschichte zu instrumentalisieren?

Diese ganze Auschwitz-Rhetorik und diese Geschichtsanalogien haben nichts mit dem Lernen aus der Geschichte zu tun. Das ist eine Kiste von Topoi, aus der man sich bedient, um das eigene Argument so stark wie möglich zu machen. In diesem Fall auch so dringlich wie möglich zu machen, um die Bundeswehr in den Krieg zu schicken. Ich unterscheide zwischen zwei Formen des Umgangs mit einer belastenden Vergangenheit: Schlussstrich und Trennungsstrich. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Schlussstrich gezogen, was dazu geführt hat, dass man in Westdeutschland vier Jahrzehnte lang ein „kommunikatives Schweigen“ gepflegt hat. Nach den Nürnberger Prozessen war es schnell Konsens, dass die Menschen, die aktiv am Krieg beteiligt waren, darüber nicht mehr reden wollten und sollten. Aber mit diesem Schweigen war nichts gelöst, nur verschoben. In den 1980er Jahren kam alles mit Macht zurück. Die 1990er Jahre wurden „das Jahrzehnt der Zeugenschaft“ genannt. Im großen Stil wurden Lebensgeschichten erzählt und angehört. Sie wurden auch zu Tausenden als Videos aufgenommen, archiviert. Damals entstand eine neue Form, sich von der Vergangenheit zu lösen. Das nenne ich den Trennungsstrich: Wir distanzieren uns von dieser Vergangenheit, aber nicht mehr, indem wir die Zeit vergessen, sondern indem wir uns an sie erinnern. Das ist eine nachhaltigere Form des Hintersichlassens.

Hilft denn Erinnerung gegen Rückfälligkeit?

Vielleicht ist es sogar so, dass unsere Erinnerungen in der Evolution mal so gedacht waren: Erinnern ist der Hebel, der uns vor gefährlichen Rückfällen bewahrt. Was gefährlich ist, sollten wir nicht wiederholen. Wir haben ja auch einen Angstreflex, den Schwindel, der uns davor bewahrt, in die Schlucht runterzufallen, und vermeiden die heiße Herdplatte, die uns geschmerzt hat. Angst und Erinnerung errichten Grenzen, die wir respektieren.

Das scheint bei der Europawahl nicht so funktioniert zu haben. Die rechten Parteien waren erfolgreich, selbst in Österreich haben sie nach der Ibiza-Geschichte keinen großen Einbruch erlebt.

Das Programm des Erinnerns, das uns vor Wiederholung schützt, ist nicht bei allen angekommen. Die FPÖ hat sich nie um einen Trennungsstrich in dem Sinne, wie ich ihn vorgeschlagen habe, geschert. Sie hat sich ja nicht mal einen Schlussstrich verordnet! Es gibt in den Familien und in den Ortsgruppen in Kärnten und in Salzburg Kontinuitäten, die können wir uns hier in Deutschland gar nicht vorstellen. Da werden Jugendliche in bestimmte Sommer- und Erziehungslager geschickt, die singen ihre Nazi-Lieder und machen einfach weiter. Hier funktioniert umgekehrt das Prinzip der Weitergabe, der Traditionsbildung und der Traditionsbewahrung. Um die Involviertheit Österreichs in den Zweiten Weltkrieg wieder langsam ins Bewusstsein der Bevölkerung zu bringen, wurde erst letztes Jahr das „Haus der Geschichte Österreichs“ eröffnet. Die Geschichte aufzurollen und sie von Bürgern und Schülern besichtigen zu lassen, das ist dort etwas Neues.

Wenn man den Österreichern dieses Buch von Susan Neiman schicken würde, „Learning from the Germans“, dann käme das dort nicht so gut an, oder?

Nein, das sollte man möglichst vermeiden. Ich sagte ja, Erinnerung kann kein Exportartikel sein. Die brauchen auch keine Unterstützung, das Museum haben sie selbst entwickelt. Es wurde von rechts und links kritisch beobachtet, ist jetzt aber auf großes Interesse gestoßen. Natürlich ist keine Gesellschaft homogen. Die Nation ist kein Kollektiv, das mit einer Stimme spricht. Am Ende entscheiden die Parteien.

Früher war das Vergessen die Regel und das Erinnern die Ausnahme. Sie bringen in Ihrem Buch „Der europäische Traum“ mehrere Beispiele von Vergessenserlassen, dort wird das Vergessen geradezu zur Pflicht. Das leuchtet auch ein, weil die Vendetta, die Rache, auch viel mit Erinnerung zu tun hat. Frieden gab es früher nur durch Vergessen. Warum sehen wir das heute anders? Liegt das nur am Holocaust?

Wenn ich sage, das Vergessen ist die Regel und das Erinnern die Ausnahme, dann bedeutet das erst mal, dass das eine von selbst geht, weil das Vergehen der Zeit das Vergessen unterstützt. Man glaubte übrigens bis in die 1980er Jahre, dass alles, was wir nicht mehr besprechen, was wir beschweigen, sich damit automatisch von selbst erledigt. Wir sagen noch heute: Das ist Geschichte, das interessiert keinen mehr. Alles, was die Zeit mitnimmt, so dachte man, löst sie auf. Wenn wir uns an etwas erinnern wollen, müssen wir dagegen mehr tun und bestimmte Strategien entwickeln. Zum Beispiel Memoiren schreiben, Denkmäler errichten, Archive aufbauen und, und, und. Sonst ist tatsächlich sehr schnell alles weg.

Für mich war der Wendepunkt die „Holocaust“-Serie, die 1979 im deutschen Fernsehen gezeigt wurde. Nicht einmal die 68er haben das geschafft und konnten die Deutschen daran erinnern, auch Baader-Meinhof nicht. Aber plötzlich wurde es dank einer amerikanischen Fernsehserie zum Gesprächsthema. Wir haben die Serie als Kinder gesehen – sie war ein Meilenstein.

Ich habe die Serie nicht gesehen, weil wir keinen Fernseher hatten. Aber wie Sie sagen, ist das ein unglaublich wichtiger Moment gewesen. Übrigens hatten die 68er einen ganz eingeschränkten Blick auf die NS-Zeit. Sie waren in erster Linie an den Tätern interessiert, sie wollten ihre Eltern, Lehrer oder auch Politiker bloßstellen. Damit haben sie „das Schweigen gebrochen“. An der Geschichte der Opfer waren sie nicht interessiert. Das kam 20 Jahre später. Ab den 1990er Jahren engagierten sich die 68er in ihrem zweiten Generationenprojekt, dem Aufbau einer selbstkritischen Erinnerungskultur.

Wenn wir noch mal auf Denkmäler kommen: Müsste ich mich eigentlich schämen, wenn ich sage, wir bräuchten jetzt ein öffentliches Denkmal von Willy Brandt? Viele würden bestimmt sagen: Das ist ja superaltmodisch, du spinnst ja.

Nein. Natürlich brauchen wir auch positive Denkmäler, wie beispielsweise die für den Widerstandskämpfer Georg Elser in Berlin und Konstanz. Aber die Denkmalssprache hat sich eben enorm verändert. Das Heroische einfach in einem heroischen Stil darzustellen, das funktioniert heute nicht mehr so einfach.

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