Jakob Augstein: Herr Kaminer, Sie haben die Sowjetunion ja zu einem Zeitpunkt verlassen, als es sie noch gab. So sind Sie nie russischer Staatsbürger geworden.
Wladimir Kaminer: Kaum komme ich in die DDR, bricht sie auch zusammen. Überall, wo ich erscheine, gehe Staaten zugrunde.
Darf ich Sie zu Beginn kurz fragen, wie Sie auf die Wahnsinnsidee kamen, einen Schrebergarten zu beziehen?
Ich habe nie solche Ideen, die kommen immer von meiner Frau. Ich bin in Moskau aufgewachsen, wir hatten nie einen Garten. Meine Frau hatte noch Erinnerungen an den Garten ihrer Großmutter, wo die Familie im Schatten eines großen Aprikosenbaums saß. Ich habe damals zugesagt, auch wenn mir die Idee nicht koscher erschien. Während sie die Gartenarbeit machte, bin ich zum Schreiben hingegangen. Ich suche ja immer im Kleinen die Antworten auf große Fragen. Und da merkte ich, dass in dieser Schrebergartenkolonie die ganze Geschichte Deutschlands der letzten 200 Jahre steckt.
Ich hoffe nicht.
Doch, doch. Auch diese Kolonie war geteilt. Ein Teil befand sich in West-Berlin, der andere im Osten.
Dann wurden Sie nach vier Jahren rausgeschmissen?
Nein, wir wurden nicht rausgeschmissen.
Man hat sich im gegenseitigen Einvernehmen getrennt?
Ja, wir hatten Probleme mit spontaner Vegetation. Nein, wir hatten Probleme mit der Prüfungskommission, die uns alle zwei Tage besuchte. Alle Gärten sollten gleich aussehen. Wir wollten aber Natur. Meine Frau fühlte sich nicht mehr als Herrin ihres Gartens. Da hat sie einen neuen im Internet gefunden, außerhalb Berlins.
Sie haben nicht versucht, diese Kolonie zu reformieren oder zu revolutionieren?
Ich bitte Sie, wir sind keine Revoluzzer. Wir versuchen nur die bestehenden Verhältnisse ...
... zu stabilisieren?
Nein, zu untersuchen und zu verstehen, um uns dann anzupassen. In diesem Fall war die Mühe zu groß. Es gab aber keinen Streit, unsere Nachfolger brachten sogar mein Buch mit und wollten eine Signatur: „Herr Kaminer, welch große Ehre für uns, dass wir Ihren Garten zurechtschneiden dürfen.“ Das waren gute Menschen.
Und jetzt Brandenburg, darüber haben Sie im vergangenen Jahr ein Buch veröffentlicht. Darin schreiben Sie sehr liebevoll über Ihre Nachbarn.
Besonders toll ist es, mit diesen Menschen Fußball zu gucken. Wir haben keinen Fernseher in unserer Laube, also habe ich bei meinem Nachbarn geklopft. Sofort war das ganze Dorf da, dreieinhalb Menschen. Die Brandenburger sind sehr zurückhaltend, ein bisschen wie meine Landsleute. Schon vor Jahren haben wir Fußball geguckt, als Deutschland gegen Italien verloren hat. In Berlin wären die Leute ausgeflippt. Die Brandenburger saßen nur da und waren still. Dann sagte der eine: „Na ja, dann müssen wir jetzt wohl alle Pizza bestellen.“ Das war cool.
Sie haben den Leuten dann die Neuauflage ihrer Dorfchronik finanziert. In der steht, dass der Wirt, der Kommunist war, in der Nazizeit ein Bild von Paul Klee mit dem Titel „Der goldene Fisch“ im Keller versteckt hat. Da dachte ich: Das denken Sie sich aus.
Herr Augstein, ich schreibe nur die Wahrheit. Warum soll ich mir das ausdenken?
Wenn man liest, denkt man immer „Das stimmt“ und dann dreht es so weg, dass man glaubt, jetzt wird man hinter die Fichte geführt. Aber zurück zu Ihrem Garten: Gibt es da einen Zaun, eine Mauer, eine Grenze?
Wir haben die Zäune alle weggemacht. Ansonsten haben wir so wenig wie möglich verändert.
Ich fand immer, dass Zäune für Gärten wichtig sind: Bis hier bin ich zuständig und ab da jemand anders. Aber das ist nicht so Ihr Problem?
Ich sehe das locker. Als sowjetisches Kind weiß ich, dass zu jedem Zaun ein Loch gehört. Falls nicht, dann werden Löcher gemacht.
Sie haben auf Facebook während der Ukraine-Krise sehr schöne, präzise Texte geschrieben. Sie sind nie aggressiv oder wütend, sondern manchmal ein wenig traurig. Bei einem Thema, das ja bei vielen zu einer Polarisierung geführt hat. Was ist da eigentlich passiert? Eine Revolution?
Nicht die erste. Aber diese Texte habe ich über Russland geschrieben. Das beschäftigt mich, das ist meine Heimat. Lange Zeit fühlte ich mich hier als Vertreter dieses Landes, im Guten und im Schlechten. Und immer habe ich gesagt: „Nein, so schlimm ist das nicht, wie Sie denken. Russland geht den europäischen Weg, man muss nur Geduld haben. Die sind gar nicht homophob, sie sind es nur nicht gewohnt und wissen vieles nicht.“ So sah es auch aus. Seit fünf Monaten stehen aber alle da mit großen Augen und wissen gar nicht, in welchem Land sie eigentlich wohnen. Ich empfinde das, was passiert ist, als persönliches Versagen.
Jedes einzelnen Russen?
Mein persönliches Versagen. Ich habe nicht gemerkt, was diese Menschen umtreibt. Sie haben die ganze Zeit auf etwas gewartet, das nicht passiert ist, bis jetzt von der höchsten Stelle das Ende der Zukunft verkündet wurde. Sie saßen 20 Jahre in einem postsowjetischen Raum, den sie als eine Art Übergangsperiode empfunden haben, eine Brücke in eine europäische Zukunft. Bis man merkte, dass daraus nichts wird, man kann kein Europa nachbauen. Da hieß es dann: Zurück zur alten Größe, wir waren doch mal wer.
Das kann man verstehen.
Es war unerwartet.
Vielleicht haben wir da verschiedene Standpunkte. Es gibt Leute, die das westliche Dogma der Menschenrechte als Instrument des Imperialismus kritisieren. Das verfängt natürlich in Russland ganz gut, oder?
Es ging nicht um eine Annäherung, sondern um ein Vorbild. Was wollen wir aus unserem Land machen? Der Kapitalismus reicht nicht aus, um die Menschen zu mobilisieren. Deswegen haben wir fieberhaft nach einem Wertesystem gesucht. Die Menschen sind ja keine Tiere, sondern brauchen Gefühle, Emotionen. Jetzt hat man die europäischen Werte auf den Müll geschmissen.
Das liebste Beispiel ist ja bekanntlich die Homophobie. Aber die russische Gesellschaft ist eben eher traditionell.
Ich vereinfache: Die europäischen Werte erzählen von den Freiheiten des Individuums und seinen Rechten, danach kommt das Wohl des Staats. Der Staat ist dafür da, sich um die Menschen zu sorgen. In Russland wird die gegenteilige Meinung propagiert. Für Russen sind Homosexuelle ein Zeichen des staatlichen Verfalls, weil sie die Wehrhaftigkeit mindern. Die Meinungsfreiheit mindert die Potenz des Staats, weil er durch Kritik verunglimpft wird. Es geht nicht um Fragen von Sexualität.
Aber es ist eigenartig, dass uns das zu einem Zeitpunkt trifft, da wir uns selber fragen, ob unsere Werte noch intakt sind.
Das verstehe ich nicht. Die Freiheiten und Rechte eines Menschen spielen für mich eine wichtige Rolle. Der Staat ermöglicht den Menschen, für ihre Rechte einzustehen.
Ich kenne eine Menge Menschen, die sagen, dass das nicht die Realität von Deutschland, der westlichen Welt oder der USA beschreibt. Was ich so irre finde, ist, dass es uns vom Maidan aus gesehen fantastisch geht, bezogen auf Demokratie, Pressefreiheit, Korruption oder Transparenz. Dabei sitzen wir hier und denken, dass das Ganze in Wahrheit gar nicht so funktioniert.
Hier gibt es real existierende Parteien und politische Rotation. Die Politiker erfahren viel Kritik. Wenn Barack Obama einen Fehler macht, wird er fertiggemacht vom Kongress. Wenn Wladimir Putin einen Fehler macht, wird es sein letzter sein. Ein Fehler ist das Ende des Landes, eine Rotation gibt es nicht.
Sie haben die Linkspartei im Wahlkampf unterstützt. Würden Sie das noch mal machen?
Nein. Na ja, ich weiß nicht.
Schade.
Sind Sie für die Linke?
Ich bin nicht gegen die Linke.
Wissen Sie, die politische Landschaft in Deutschland ist sehr eintönig. Die Handbücher, die Ideologien dieser Parteien entsprechen einfach nicht mehr der aktuellen Situation. Sie kommen aus einer anderen Zeit. Die Linke hatte diese einmalige Chance der Vereinigung. Die West-Linke, von der Wirklichkeit abge-hoben, und diese abgehangenen alten DDR-Parteikader mit ihren komischen Mützen. Etwas Gegensätzlicheres konnte man sich kaum vorstellen. Es ist leider nichts daraus geworden.
Ich würde sagen, die ringen noch miteinander, oder?
Die ringen zu viel miteinander.
Ich halte die aus dem Osten ja für linke Sozialdemokraten, in Frankreich würde man Sozialisten sagen.
Passen Sie auf sich auf. Sie haben die Gefahr, sich in diesem linken Wald zu verlaufen. Man muss sich immer wieder fragen: Was hat das mit der Realität zu tun? Was ist heute die linke Idee? Immer wenn ich irgendwelche Marxismus-Kritiker oder Marxismus-Befürworter heute lese, lache ich darüber.
Sind Sie eigentlich ein Optimist?
Das Leben ist eine Tragödie, darüber brauchen wir nicht zu streiten. Die Frage ist, wie man damit umgeht. Man muss sie mit einer Prise Optimismus und Humor wahrnehmen und nichts von Menschen fordern. Jetzt wird zum Jubiläum des Ersten Weltkriegs ja viel geschrieben: „Was waren das für Idioten, hätten die das nicht wissen müssen?“ Das kann man eigentlich unter jede Seite der Weltgeschichte schreiben. Das ergibt aber keinen Sinn.
Aber gerade jetzt muss man den Leuten doch sagen: „Guckt zurück, versucht zu lernen!“
Wir wissen heute, dass die Menschen nicht lernfähig sind. Jede Generation will alles auf eigene Faust klären. Die einzige Erklärung für das Scheitern der vorherigen Generationen sehen sie in deren Unfähigkeit und Idiotie. Sie sind überzeugt, dass ihnen das nicht passieren wird.
Wenn man Fatalist ist, kann man aber kein Optimist sein.
Ich bin kein Fatalist.
Aber in einem Ihrer Texte steht: „Wir leben in einer unbeständigen Welt: Menschen sterben, alles zerfällt zu Staub.“ Da dachte ich, so, das ist jetzt diese russische Tiefenfolklore.
Das ist nur der halbe Satz, Herr Augstein. Weiter steht da: „Das Einzige, was bleibt, sind die Geschichten.“ Vorausgesetzt, sie werden von jemandem spannend aufgeschrieben, damit die nächsten Generationen Lust haben, sich damit zu beschäftigen. Und vielleicht lernen sie ja auch etwas für sich daraus, das will ich gar nicht ausschließen. Aber auf jeden Fall kennen sie dann ihre Vergangenheit.
Es hat mal einer gesagt: Alles, was geschieht, geschieht, um zu einem Buch zu werden.
Und wozu ist das Buch da? Damit es jemand liest.
Was für ein Schlusswort.
Wladimir Wiktorowitsch Kaminer, geboren 1967 in Moskau, kam noch im Juni 1990 nach Berlin, wo er humanitäres Asyl erhielt. Kaminer ist Schriftsteller, Kolumnist, Entertainer und DJ. Seine vielen Bücher (unter anderem Militärmusik und Russendisko ) haben sich weit mehr als drei Millionen Mal verkauft. Zuletzt erschien: Diesseits von Eden. Neues aus dem Garten Der nächste Salon „Kapital – Markt – Macht: Wie ist Wandel denkbar?“ mit Joseph Vogl , findet am 15. September 2014 im Berliner Gorki-Theater statt. Beginn: 20 Uhr. Weitere Informationen auf freitag.de/salon
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