Bei uns am Hegelplatz hatten wir früher einen Baum, der jetzt nicht mehr steht. Eine Kastanie, die sicher mehr als zweihundert Jahre alt war. Immer wenn ich Ärger im Büro hatte, bin ich runtergegangen und habe sie umarmt. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass es hilft, Bäume zu umarmen. In meinem Fall bin ich nicht so sicher. Es heißt ja: Der Baum ist dein Freund! Aber die Kastanie und ich, wir wurden nicht richtig warm. Die Wahrheit ist: Sie war mir einfach zu dick.
Das ist jetzt kein Tree-Shaming. Es ist einfach so, dass der Stamm den richtigen Umfang haben muss. Zu dünn macht keinen Sinn. Das Umarmen einer Zahnbürste nützt niemandem. Zu dick ist aber auch nicht gut. Man fühlt sich dann klein und murkelig. So wie ich, wenn ich wieder nach oben ins Büro geschlichen bin. Wer weiss, was aus mir hätte werden können, wenn die Kastanie nicht so dick gewesen wäre. Chefredakteur der Zeit vielleicht.
Gestern habe ich gesehen, wie jemand den gleichen Fehler machte wie ich damals und sich einem Mammutbaum näherte. Der Baum steht in einem Alpendorf, das ich auf der Reise nach Süden durchquerte. Der junge Mann klebte an diesem Baum wie eine Fliege an der Scheibe. Er drückte seinen Kopf dagegen und sah aus, als wollte er horchen, wie der Baum trinkt. (Ich empfehle Helmut Schreiers dendrologischen Klassiker Bäume – Streifzüge durch eine unbekannte Welt, in dem ausführlich vom Saugen, Pumpen, Schmatzen und Schlürfen die Rede ist.)
Wahrscheinlich war der junge Mann Teilnehmer einer „kreativ-meditativen“ Seminarwoche, die hier gerade stattfand mit dem Ziel, „dass wir wieder ein Stück tiefer und bewusster herausfinden können, wie sich unser UR-eigener Weg für uns stimmig anfühlt“.
So sind die Berge heutzutage: Der eine geht wandern, der andere erkundet die inneren Gebirge. Ich hab mir das Programm angesehen. Vormittags gab es Körperwahrnehmung, Somatic Experience und Emotional Freedom Technique. Nachmittags war frei. Im ganzen Ort liefen orientierungslose Seminaristen herum, umarmten Bäume, kauften im Souvenirladen Bergkräutertee und Fußpflegebalsam. Es ist keine Kleinigkeit, in den Ferien den inneren Regenbogen zu finden.
In der Broschüre habe ich noch gelesen: „Jedes unangenehme Gefühl wird aufgrund eines Gedankens hervorgerufen, der sich, wenn man ihn hinterfragt, als unwahr herausstellt. Jeder Gedanke, der wehtut, ist nicht wahr.“
Das ist toll. Donald Trump ist Präsident, Horst Seehofer ist Innenminister, diese Gedanken tun echt weh – sie sind also nicht wahr. Wunderbare Bergwelt. Ich denke an den Zarathustra, in dem es heißt: „Im Gebirge ist der nächste Weg von Gipfel zu Gipfel: aber dazu musst du lange Beine haben.“
Kommentarfunktion deaktiviert
Die Kommentarfunktion wurde für diesen Beitrag deaktiviert. Deshalb können Sie das Eingabefeld für Kommentare nicht sehen.