Der vergangene Sonntag hat ein desolates Deutschland gezeigt. Eine Wahl, nach der beinahe nur Verlierer übrig bleiben, wann hat es das jemals gegeben? Krachende Verluste (CDU), gescheiterte Hoffnungen (Grüne), blanke Existenzangst (Linke) und eine SPD, die aus einem Vorsprung von gerade einmal 1,6 Prozentpunkten gegenüber einem vollständig ausgelaugten Gegner einen „Regierungsauftrag“ ableitet – so sieht die politische Landschaft post Merkel aus. Einigermaßen ungeschoren sind nur die Liberalen davongekommen.
Apropos „Regierungsauftrag“, den gibt es nicht. Ein solcher Begriff taucht in den einschlägigen Schriften des Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland nicht auf. Ebenso wenig wie der des „Wählerwillens“, mit dem so mancher Politiker gerne den eigenen Willen elegant verkleidet. Die Leute wählen den Bundestag, und der Bundestag wählt den Kanzler. Das gehört zum Wesen der repräsentativen Demokratie. Die hat freilich in Zeiten, in denen mancher gerne die Last der politischen Entscheidung an vermeintlich objektivere Instanzen – „Follow the science“ – abgeben möchte, einen schweren Stand.
Was wird jetzt nur aus der CDU? Sie ist seit jeher die Partei ohne Identität. Sie hatte nie ein anderes Programm als die Macht. Darin steckt das Geheimnis ihres märchenhaften Erfolgs und jetzt ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Die Grünen, die FDP, sogar die AfD haben einen inhaltlichen Wesenskern, auf den sie in der Krise zurückgreifen können – und für die SPD, die älteste aller Parteien, gilt das ohnehin: Es steht ihr jederzeit frei, sich an ihren Seinszweck zu erinnern, den Kampf für soziale Gerechtigkeit. Aber was bleibt von der CDU ohne die Macht? Ein Haufen alter weißer Männer, die übereinander herfallen.
Rein theoretisch könnte der arme Armin doch noch Kanzler werden. Und wenn er es würde, es würde nach einem halben Jahr niemand mehr fragen, wie er es wurde. Allein, so wie die Wahl ausgegangen ist, würde es den Grünen schwerer fallen, eine Koalition mit der CDU zu erklären als der FDP ihre Begründung für die sogenannte Ampel. Außerdem wird CSU-Chef Markus Söder schon dafür sorgen, dass es nicht dazu kommt. Der Spiegel nennt Laschet den „Zerstörer“ der CDU. Aber an diesem Untergang trägt das bayerische U-Boot gehörige Mitschuld.
Als die Grünen zum ersten Mal in ihrer Geschichte in die Regierung kamen, war noch von einem Projekt die Rede. Darin klang das Unfertige und das Nach-vorne-Weisende gleichermaßen an. Niemand käme heute auf die Idee, eine Koalition aus SPD, Grünen und Liberalen mit einem so hoffnungsvollen Titel zu benennen – obwohl eine solche Regierung allemal mehr Projektcharakter hätte als seinerzeit das Schröder-Fischer-Duo. So groß sind die Unterschiede zwischen den beiden kleinen Parteien, die im Vergleich zur früheren Volkspartei SPD gar nicht so klein sind. „Pech für sie nur, dass man die Steuersätze für Besserverdienende nicht zugleich senken und erhöhen kann“, hat Jürgen Kaube in der FAZ sehr hübsch geschrieben. Aus Scholz könnte in dieser Konstellation eher ein Ampelmännchen werden als ein großer Kanzler. Aber die Frage stellt sich, ob den Deutschen überhaupt der Sinn nach großen Kanzlern steht.
War zum Beispiel die überaus beliebte Angela Merkel eine große Kanzlerin? Immerhin gibt es jetzt in den Geschichtsbüchern eine Ära Merkel, so wie es eine Ära Adenauer gibt oder eine Ära Kohl. Aber wofür steht diese Ära – außer für Renationalisierung und die Schwächung der internationalen Ordnung? Immerhin, Merkel hat die Menschen ziemlich in Ruhe gelassen. Wer auch so gut zurechtkam, mochte damit zufrieden sein. Für die anderen waren die Merkel-Jahre keine guten Jahre. Sie hat der zunehmenden Spaltung der deutschen Gesellschaft ebenso gleichgültig beigewohnt wie der europäischen Spaltung. Warum auch nicht? Die Physikerin Merkel wird sich ausgerechnet haben, dass es unklug ist, sich mit der Thermodynamik eines politischen Systems anzulegen, das auf Energiezufuhr chaotisch reagiert. Und wenn sie weiterhin Lust aufs Amt verspürt hätte, die Mehrzahl der Journalisten hätte ihr gewiss nicht die Unterstützung entzogen und die Mehrheit der Wähler nicht die Stimme. Denn Merkel galt als Wunderkanzlerin, die Deutschland mit sicherer Hand durch alle Krisen geführt hat. Und Krise ist ja immer.
Jetzt aber, da sie nach einer viel zu langen Amtszeit endlich abtritt, fällt den Leuten plötzlich wie Schuppen von den Augen, was Deutschland unter Merkels Führung so alles versäumt hat: Digitalisierung, Europa, Verwaltungsreform, Klimaschutz, industrielle Modernisierung. Welchen Reim soll man sich darauf machen? Entweder ist die Politik – oder die Berichterstattung darüber – ein durch und durch paradoxes Geschäft. Oder es gilt hier mehr als sonst im Leben: Wirklichkeit entsteht erst in der Betrachtung.
Es ist schon so: Die Deutschen wollten gar keine andere Regierung. Aber wenn schon die alte nicht mehr im Angebot war, dann wollten sie wenigstens keine andere Politik. Von Wechselstimmung war zwar vorher die Rede, vor allem die Grünen haben sich davon erzählt und geglaubt, dass die Menschen bereit seien für eine neue Politik. Der Wahltag hat alle eines Schlechteren belehrt. 14,8 Prozent der Stimmen für die Grünen, ein unbedingter Auftrag zum klimagerechten Umbau der Republik hätte anders ausgesehen. Und wenn die Deutschen von Olaf Scholz so begeistert wären, wie er von sich selbst, hätte er nicht das drittschlechteste Ergebnis in der Geschichte seiner Partei eingefahren. Ja tatsächlich, mit solchen Werten darf man sich heute Hoffnung aufs Kanzleramt machen.
Nach der sommerlichen Flutkatastrophe konnte man zwar allenthalben lesen, dass Klimarettung kein Geld koste, sondern spare. Und das stimmt sicher auch – aber eben nicht sofort. Die Kosten des Verzichts entstehen heute. Der Nutzen erst später. So wie vergangene Generationen auf Kosten kommender gelebt haben, müssten sich gegenwärtige Generationen zugunsten späterer einschränken. Wieder einmal sind Kosten und Nutzen ungleich verteilt.
So war es kein Wunder, dass der Wahlkampf weitgehend zumutungsfrei verlief. Es fielen vor allem die Themen auf, die nicht vorkamen. Wo waren zum Beispiel die großen Debatten über Krieg und Krankheit? Dass gerade der längste Kampfeinsatz zu Ende ging, an dem deutsche Soldaten – ja, seit wann eigentlich, seit 1648? – beteiligt waren, spielte im Wahlkampf keine Rolle. Und auch nicht die Frage, welche Lehren aus dem Afghanistan-Desaster zu ziehen seien. Ebenso sang- und klanglos verschwanden die Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Epidemie in einem Meer der Langeweile – obwohl sie tiefer in Leben und Freiheit der Deutschen eingriffen als irgendein staatliches Handeln seit Bestehen der Bundesrepublik. Oder gibt es zu den Fragen von Verbot, Freiheit und Vernunft keine unterschiedlichen politischen Standpunkte?
Der Mangel an Veränderungsbereitschaft ist in der deutschen Politik inzwischen endemisch und der kommende Kanzler wird ihn berücksichtigen – so wie Angela Merkel ihn berücksichtigt hat. Denn das ist ja die entscheidende Lehre, die ihr Erfolg bereithält: Macht eure Politik so, dass die Leute davon so wenig wie möglich mitbekommen. Das ist ein perfektes Rezept, um im Amt zu bleiben. Aber ein ganz schlechtes, wenn man sich der chinesischen Herausforderung stellen wollte oder dem bevorstehenden Weltuntergang.
Nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern – so endet also Merkels Welt. Das Land ist erschöpft, die CDU entleert, die Ära Merkel schließt mit der Erkenntnis: Es war zu lang. Wenn sie auf den Trümmerhaufen blickt, der sie selber ist, sollte auch die Dauerregierungspartei CDU jetzt auf die Idee kommen, dass eine Begrenzung der Zeit im Kanzleramt von allgemeinem Interesse ist. Die deutsche Demokratie leidet unter ihren Ewigkeitskanzlern. Aber von allein können sie eben nicht voneinander lassen, die Deutschen nicht von ihren Kanzlern – egal ob Mann oder Frau – und die Kanzler nicht von der Macht.
Da wäre also mal ein Auftrag an die neue Regierung: Bitte, bitte erspart uns das künftig.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.