Jubiläum, jetzt aber wirklich. Das ganze Jahr 2017 stand im Zeichen der Reformation. Am 31. Oktober ist es so weit: Vor 500 Jahren schlug der Mönch Martin Luther seine Thesen an die Kirchtür in Wittenberg. Margot Käßmann war „Botschafterin des Reformationsjubiläums“ – so lautet ihr offizieller Titel. Käßmann ist die bekannteste deutsche Kirchenfrau. Jakob Augstein sprach mit ihr über Luther, den Glauben und die Revolution.
der Freitag: Frau Käßmann, eine Umfrage der evangelischen Kirche zeigte, dass selbst aktive Kirchenmitglieder in ihren Familien kaum über Religion sprechen und bei der Arbeit schon gar nicht. Es scheint den Leuten peinlich zu sein, sich als religiös zu zeigen. Woran liegt das?
Margot Käßmann: Wenn ich den Grund dafür wüsste, würde ich natürlich gern mit anderen gemeinsam dagegen angehen. Diese Sprachlosigkeit ist traurig, ein großer Verlust. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen überhaupt keine Sprache mehr für den Glauben haben. Wenn ich dann allerdings anfange, mit ihnen über den Glauben zu reden, ergeben sich doch meist sehr schnell sehr intensive Gespräche. Ich habe das mal bei einer Talkshow erlebt, in der ich über das Beten gesprochen habe. Nach leichtem Zögern hat sich auf einmal die ganze Runde auf das Thema eingelassen. Ein Fußballtrainer sagte, er beneide mich darum, dass ich überhaupt beten kann. Er würde gern beten, aber er könne es nicht. Auch die Frage „Glaubst du eigentlich an eine Auferstehung nach dem Tod?“ führt häufig erst mal nur zu einem Schlucken, aber nach kurzem Überlegen kommt es doch oft zum Gespräch darüber. Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen es einfach mal wagen, über ihren Glauben zu sprechen. Über Sexualität wird heute bestimmt mehr geredet als über den Glauben.
Wenn man sich die ganzen Fundamentalismen anguckt, die plötzlich wieder unsere Gegenwart prägen, sollte man doch froh sein, wenn die Leute Religion lieber ins Private schieben.
Deshalb halte ich es gerade für wichtig, dass im öffentlichen Raum über Religion diskutiert wird, denn für viele Menschen ist das ja noch immer ein wichtiges, lebensbestimmendes Thema. Dem Fundamentalismus allerdings muss dringend durch Bildung entgegengewirkt werden. Auch das ist ein reformatorisches Thema: Ich bin aufgerufen, selbst zu denken. Nur gebildete Religion ist in der Lage, Fundamentalismus zu hinterfragen. Es gilt dann nicht mehr nur die Forderung: „Glaub oder stirb.“ Dass Religion oft nur noch mit Fundamentalismus in Verbindung gebracht wird, widerspricht allerdings meinem eigenen Gefühl von Religiosität. Wer einfach nur seinen Glauben lebt, sollte nicht gleich in Verdacht geraten, fundamentalistische Ansichten zu vertreten. Das gilt auch für Muslime. Wir können nicht jeden Muslim unter Islamismusverdacht stellen. Ich möchte ja auch nicht mit den Kreationisten in einen Topf geworfen werden, die die Evolutionstheorie ablehnen und aus dem Schulunterricht streichen wollen.
Wenn man sich den islamischen Fundamentalismus anguckt – manches müsste doch eigentlich einem Protestanten, der die Geschichte der Reformation kennt, vertraut vorkommen.
Sie denken an Thomas Müntzer, der sich in Luthers Zeit mit der Bibel in der Hand an Bauernaufständen beteiligt hat?
Ja, Müntzer wurde 1525 geköpft, weil er eine Revolution angezettelt hat und weil er den Protestantismus anders verstehen wollte. Aber dieser revolutionäre Zug ist im Protestantismus schnell abgewürgt worden?
Na ja, er ist immer mal wieder aufgebrochen. Johann Hinrich Wicherns flammende Rede 1848 in Wittenberg ist nur ein Beispiel dafür. Der Begründer der Inneren Mission betonte unter anderem: „Wir sind gerufen, für die Armen da zu sein!“ Ich denke schon, dass diese an Jesu Beispiel anknüpfende Zuwendung zu den Armen immer wieder durchgebrochen ist. Sobald Institutionen entstehen, kommt eine gewisse Beharrlichkeit auf, die sozialrevolutionäre Bestrebungen nicht gerade begünstigt. Nach einer Weile bricht das dann aber immer wieder auf. „Kirche in Solidarität mit den Armen“ war zum Beispiel in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein ganz großes Programm in Lateinamerika. Dieses Revolutionäre steht immer in Spannung zu den Institutionen, denn die brauchen natürlich Strukturen. Und Strukturen sind immer ein bisschen behäbiger und sehr skeptisch möglichen Umwälzungen gegenüber. Ich glaube, dass auch Luther selbst in diesem Spannungsfeld gehandelt und gedacht hat. Zunächst ist er eigentlich nur zur Bibel zurückgegangen. Dort hat er nachgelesen und festgestellt: Vieles von dem, was in dieser Kirche passiert, steht da überhaupt nicht drin. Dort steht nichts von Ablass gegen Geld, nichts davon, dass Kirche Heil vermittelt, und nichts über den Zölibat als angeblich beste Lebensform. Diese Erkenntnisse teilte er den Menschen mit, und vielen leuchtet es ein. Dass in diesen Gedanken auch sozialrevolutionäres Potenzial steckte, hat Luther wahrscheinlich selbst erschreckt. Zumindest hatte er wohl nicht gedacht, was Leute wie Müntzer daraus machen würden. Zunächst hatte Luther den Bauern ja eigentlich in vielen Forderungen Recht gegeben. Aber als dann die großen Aufstände begannen, wechselte er auf die Seite der Fürsten und sagte: „Es ist in Ordnung, das gewaltsam zu unterbinden.“
Zur Person
Wenn die Deutschen sich einen Papst wählen könnten, würde Margot Käßmann den Posten bekommen. Die 59-Jährige ist die beliebteste Gläubige des Landes. Der Posten als „Botschafterin für das Reformationsjahr 2017“ ist das Ende ihrer theologischen Laufbahn. Im Mai kommenden Jahres geht Käßmann in den Ruhestand
Die Bibel war immer auch als Anleitung zur sozialen Revolution zu lesen. Man kann sich im Kampf gegen eine weltliche Unterdrückungsordnung auf die Bibel berufen. Der Grundgedanke, dass alle Menschen vor Gott gleich sind, ist schön und revolutionär.
Dieser Gedanke hat ja auch immer wieder Menschen angetrieben. 1998 habe ich eine Rede von Nelson Mandela gehört, in der er sagte, die Missionare hätten sicher viele Fehler gemacht, aber sie hätten den Menschen in Afrika auch die Überzeugung geschenkt, dass jeder Mensch, ob schwarzer oder weißer Hautfarbe, dieselbe Würde hat und damit dieselben Rechte. Das hat mich damals sehr beeindruckt. Er hat genau diesen Gedanken auf den Punkt gebracht. Die Kirche selbst hat Jahrhunderte gebraucht, um das für sich wiederzuentdecken. Immer wieder hat die Kirche sich als Institution gewehrt, wenn auf die Bibel verwiesen wurde, um genau so etwas durchzusetzen. Für mich wird Kirche allerdings nur dann wirklich glaubwürdig, wenn sie sich zurückbesinnt auf diese biblischen Grundsätze.Die Bibel ist eben nicht so harmlos, wie gern behauptet wird. Mir wird oft die Frage gestellt, was Jesus wohl zum Terror sagen würde. Dann antworte ich: „Jesus sagte: ‚Liebt eure Feinde!‘“ Die Menschen reagieren dann oft abwehrend und meinen, das sei ja wohl lächerlich und nicht auf heutige Situationen zu übertragen. Ja, möglicherweise wirkt eine solche Forderung lächerlich auf alle, die glauben, sie könnten Terror mit Gewalt bekämpfen. Aber es steht nun mal so in der Bibel.
Wenn man sagt: „Liebt eure Feinde, das steht in der Bibel“, dann sagen die Leute nicht nur, das sei lächerlich, sondern sie werden regelrecht aggressiv. Der Satz erzeugt geradezu Hass. Woher rührt diese merkwürdige paradoxe Gegenreaktion?
Mich erstaunt immer wieder, dass die Bibel auch heute noch so eine Provokation darstellt. Meistens sagen die Menschen ja: „Ach ja, die Bibel und die Kirche, das ist alles ganz nett, aber es interessiert mich nicht so sehr.“ Die meisten Menschen scheinen heute davon auszugehen, dass Konflikte immer nur der löst, der die meiste Macht demonstriert und im Ernstfall auch Gewalt anwendet. Wir haben kein klares Votum der Politik für gewaltfreie Konfliktlösung erreicht – so sehr es auch durch Mediation und andere Verfahren versucht wurde. Da ist die Bibel eine Provokation. Das gefällt mir.
Es gibt geradezu einen Hochmut gegenüber Religion, den ich nicht verstehe.
Ich erlebe beides. Ich erlebe die aggressiven Reaktionen, die ich zum Beispiel nach Interviews zum Friedensthema erhalte. Massive Reaktionen und Hass-Mails, die menschenverachtend sind. Und ich erlebe auch den Hochmut nach dem Motto: „Na ja, Sie müssen doch komplett naiv sein, an Gott zu glauben. Und vielleicht glauben Sie sogar noch an ein Leben nach dem Tod. Da müssen Sie ziemlich viel Angst vor der Gegenwart haben und noch mehr Angst vor dem Sterben.“ Oder: „Du hast ja gar nicht den Nerv, als erwachsener Mensch in dieser Welt zu leben, und musst die Vernunft ausblenden. Wer glaubt schon an Gott in der aufgeklärten Welt, in der wir leben?“ Nach Kant könne doch kein Mensch mehr an Gott glauben, heißt es. Außerdem sei die Welt physikalisch erklärbar und es gebe ja die Medien, durch die man sich informieren könne. Wer noch an Gott glaube, könne nur naiv sein.
Das Bedürfnis nach Spiritualität ist doch eigentlich ein menschliches Grundbedürfnis.
Ich würde auch sagen, es gehört zur Bildung des Menschen, sich einmal im Leben mit den existenziellen Fragen auseinanderzusetzen. Mit der Sinnfrage und mit der Frage, ob es Gott gibt. Da können Menschen ja zu unterschiedlichen Antworten kommen. Der eine findet zum Glauben, andere stellen für sich fest, dass es Gott nicht gibt oder dass Religion nicht Teil ihres Lebens ist. Aber viele Menschen setzen sich überhaupt nicht mit diesen Fragen auseinander. Nie.
Ein weiterer Aspekt ist, dass Spiritualität inzwischen schon fast zu einem Konsumartikel unserer Marktgesellschaft geworden ist. Spiritualität wird vermarktet als etwas, was mir guttut wie mein Fitnessstudio. Einmal kam ich zu meinem Friseur, und er hatte plötzlich vier Buddha-Figuren dort stehen. Deshalb fragte ich ihn: „Sind Sie Buddhist geworden?“ Und er antwortete: „Nein, aber das verändert die Atmosphäre so positiv.“ So etwas finde ich lächerlich – aber das ist die Marktgesellschaft. Wenn es mir guttut, nehme ich mir ein bisschen hier und ein bisschen da. Viele Menschen betonen, wie wunderbar sie den Buddhismus finden, aber sie wollen sich nicht wirklich damit auseinandersetzen, zum Beispiel mit dessen Schattenseiten.
Man spricht da von „Bricolage“ – Bastelarbeit, wenn sich jeder seine Privatreligion zusammenstöpselt. Wie finden Sie das?
Das hat für mich nicht unbedingt etwas mit Religiosität zu tun, sondern eben eher mit der Konsumgesellschaft. Ich konsumiere oberflächlich irgendetwas, von dem ich meine: „Das tut mir jetzt gut.“ Aber sobald ich mich damit in eine Gemeinschaft einbringen muss, wird es mir schon zu anstrengend. Die Leute werden nicht mehr Mitglied in Parteien, nicht in Vereinen, nicht in Gewerkschaften, auch nicht in Kirchen. Das ist ihnen alles zu anstrengend, weil es nicht an den individuellen Lebensentwurf angepasst ist. Ich setze mich vielleicht mal mit zehn Leuten zusammen, die ähnlich ticken wie ich. Aber Religion, in der es auch immer um Gemeinschaft und um gemeinsame Rituale geht, passt nicht zum individualistischen Lebensstil.
Ist es nicht auch so, dass viele Leute heutzutage Mühe haben mit dem Bild eines personalisierten Gottes und deshalb ihr spirituelles Bedürfnis auf andere Weise befriedigen?
Im hebräischen Denken wie im Christentum sind die Gottesbilder ja vielfältig. Die Bibel kennt viele Namen für Gott. Dass da quasi ein alter Mann auf der Wolke sitzt und die Welt so richtet, wie es ihm gerade passt, ist ja überhaupt kein christliches Gottesbild. Ich bin keine Expertin für das Judentum, aber ich denke, das Judentum würde die Vorstellung von Gott als selbstherrlichem Monarchen auch ablehnen.
Immerhin haben die Juden nur einen Gott, und die Christen derer drei.
Das ist auch wieder ein schönes Thema. Ich würde natürlich nicht sagen, dass wir drei Götter haben. Stattdessen spreche ich von drei Arten, Gott zu verstehen. Aber das macht es natürlich komplex, und die Leute haben keine Lust, sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen. Alles soll klar sein, einfach und zu mir passen.Vor allem ärgert es mich zunehmend, dass Menschen immer betonen, sonntagmorgens um zehn Uhr könnten sie nicht in die Kirche gehen, denn sie brauchten diese Zeit für die Familie. Und dann gehen Sie mal am Sonntagmorgen um halb neun über den Sportplatz und schauen, wie viele Familien dastehen, die ihre Söhne gerade zum Fußballspiel bringen. Wenn den Leuten etwas wichtig ist, investieren sie auch.
Das klingt ein bisschen enttäuscht.
Ja, ich bin auch enttäuscht und traurig. Für mich persönlich ist der christliche Glaube die Lebenskraft, in der ich gehalten bin, und das würde ich anderen Menschen gern vermitteln. Ich tue mein Bestes. Aber wenn andere so am Lebenssinn vorbeigehen, macht mich das traurig, etwa wenn ich bei einem Sterbenden bin und er sagt mir: „Es ging alles so schnell vorbei. Ich habe nie darüber nachgedacht, dass mein Leben endlich ist.“ Dass das Leben endlich ist, wissen wir doch alle. Dafür braucht es nicht erst so eine Diagnose. Es ärgert mich, dass manche ihr Leben einfach so dahinplätschern lassen. Die wichtigste Frage scheint zu sein, ob und wie billig ich den nächsten All-Inclusive-Urlaub buche.
Spricht da gerade die Missionarin aus Ihnen?
Das Missionarische ist als Begriff diskreditiert worden durch viele Schattenseiten der Missionsgeschichte. Aber ja, ich hätte schon auch eine „Mission“. Ich möchte den Menschen sagen: „Denk mal über dein Leben nach und überleg, wie du dein Leben leben willst, damit du am Ende gern zurückschaust.“ „Missionarisch“ ist nicht mein Sprachgebrauch. Aber mit Menschen über den Glauben ins Gespräch kommen und sie nachdenklich machen möchte ich schon. Ich war vor kurzem beim deutschen Bestattertag. „Wie kannst du zum Bestattertag gehen?“, fragten mich danach viele. Das ist toll. So kommt es zu guten Gesprächen über Leben und Tod. Ich habe schon einen Impetus, nennen wir das vielleicht so, darüber zu reden, aber ich würde nie jemandem sagen: „Dein Leben ist sinnlos, weil du nicht an Gott glaubst.“ Solche Urteile über Menschen würde ich nie fällen. Bedeutet Ihnen die Reformation eigentlich irgendetwas?
Natürlich. Aber Luther – und nach ihm die protestantische Kirche – hat sich zu oft auf die falsche Seite geschlagen, auf die des Staates, nicht auf die der Unterdrückten.
Luther dachte damals, die Fürsten könnten seine Kirche besser schützen als Bischöfe. Deshalb hat er keine eingesetzt. Aus dieser Einstellung hat sich dann später der protestantische Untertanengeist entwickelt – das ist auch für mich eine bestürzende Geschichte.Eine Person aus dem letzten Jahrhundert, die für mich in diesem Zusammenhang sehr wichtig ist, ist Helmuth James Graf von Moltke. Er hat in der Zeit des Nationalsozialismus gemeinsam mit seiner Frau Freya den „Kreisauer Kreis“ begründet. Mit Christen und Nichtchristen, Konservativen, Liberalen und Linken haben sie über ein neues Europa nach dem Terror des Nationalsozialismus diskutiert. Moltke stand dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 kritisch gegenüber, weil er das fünfte Gebot „Du sollst nicht töten“ höher wertete als die Notwendigkeit des Tyrannenmords. Trotzdem wurde Moltke verhaftet, mit in die Verantwortung für das Attentat gezogen und vor Gericht gestellt. Richter Roland Freisler brüllte ihn nieder. Berührend ist für mich, wie Moltke dankbar auf diese Tage zurückblickte. Er schrieb an seine Frau: „Der ganze Saal hätte brüllen können, wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir gar nichts gemacht.“ Etwas überspitzt formuliert: Moltke steht im jesuanischen Zeugnis. Er hatte die lutherische Haltung: „Hier stehe ich, ich weiß, dass mein Leben zu Ende geht, du kannst aber toben, so viel du willst, ich fühle mich sicher in dem, was ich tue.“ Da kommt statt des Untertanengeistes Widerstandsgeist auf. Trotzdem muss ich Ihnen Recht geben, die Lutheraner hatten bis 1945 Schwierigkeiten mit der Republik, mit der Demokratie und mit der Freiheit, auch der Religionsfreiheit. Deshalb sage ich: „Reformation geht weiter.“ Wir müssen lernen, dass andere auch anders glauben.
Die Reformation dauert an?
Ich finde es wichtig, dass wir die Reformation nicht als abgeschlossenen Vorgang sehen, der von 1517 bis 1525 oder meinetwegen bis zum Trienter Konzil stattgefunden hat. Die Reformation fing viel früher an. Schon Jan Hus ist Teil der Reformation. Er forderte ja bereits hundert Jahre früher ganz Ähnliches wie Luther. Auch der englische Kirchenkritiker John Wyclif, von dem Jan Hus gelernt hat, gehört dazu. Es hatte sich also schon vor Luthers Thesenveröffentlichung ein Reformstau in Kirche und Gesellschaft ergeben. Dieser suchte ein Ventil. Luther war dann die charismatische Figur der Reformation. Aber natürlich war er nicht allein. Ohne politische Unterstützung durch Friedrich den Weisen und Philipp von Hessen hätte er es auch nicht geschafft; und natürlich auch nicht ohne Philipp Melanchthon, der immer wieder vermittelt hat und der große Kommunikator war. Unzählige Männer und Frauen ließen sich von dem reformatorischen Geist mitreißen.
Brauchte die Geschichte Luther dafür?
Das System wäre auch ohne ihn irgendwann in eine Krise geraten, weil die Menschen so geknechtet wurden. Der Historiker Heinz Schilling sagt, die Individualität und die Ausdifferenzierung seien im 16. Jahrhundert nicht aufzuhalten gewesen. Das leuchtet mir ein. Die Fürsten hatten ihre eigenen Interessen, Kaiser Karl V. konnte das römische Reich deutscher Nation nicht mehr einheitlich zusammenhalten, der Papst sah seine Macht schwinden. Und die Menschen fingen an, selbst zu lesen und selbst zu denken. Luther und andere Reformer setzten sich für eine breite Schulbildung ein. Zwingli und Calvin in Oberdeutschland, in der Schweizer Reformation, ging es ebenfalls um gebildeten Glauben. Insofern können wir sagen: Die Zeit war reif. Der 31. Oktober 1517 ist ein symbolisches Datum dafür. Der inzwischen eingeführte Buchdruck spielte auch eine wichtige Rolle bei der Veröffentlichung der Ablassthesen. Hätte es den Buchdruck noch nicht gegeben, dann hätten sich Luthers Thesen gar nicht so schnell verbreiten können. Nun aber wurden sie den Druckern fast aus der Hand gerissen. Es war eben auch eine Medienrevolution.
Eine weitere Schlüsselszene war Luthers Auftritt auf dem Reichstag zu Worms, als er dort stand und sagte: Ihr könnt mein Leben bedrohen, aber ich widerrufe nicht, wenn ich nicht aus der Bibel oder aus Vernunft widerlegt werde. Interessant ist auch, dass sich die Nachricht über Luthers Weigerung dann so schnell verbreitete – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte nach so einem Ereignis. Die Delegierten des Papstes saßen noch zusammen und versuchten, sich über die Formulierung des Ergebnisses der Anhörung zu einigen, da wussten die Menschen überall in den deutschen Ländern schon, was geschehen war. Der Prozess war nicht mehr aufzuhalten. 1517 ist ein gutes Symboljahr für all das.
Bewundern Sie Luther?
Ja. Ich sehe seine Schattenseiten, das ist gar keine Frage, aber ich bewundere ihn auch.
Das Gespräch ist ein bearbeiteter Auszug aus dem im Aufbau-Verlag erschienenen Band Die Welt verändern – was uns der Glaube heute zu sagen hat
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.