Leben lernen

Krise Die Politik erkauft uns mit dem Lockdown zu immensen Kosten Zeit. Wir sollten akzeptieren, das Virus nicht beseitigen zu können
Ausgabe 03/2021
Merkels Corona-Politik hat die schlechteste aller Welten erzeugt: Die Jungen werden ihrer Freiheit beraubt und an der Gefahr für die Alten ändert sich nichts
Merkels Corona-Politik hat die schlechteste aller Welten erzeugt: Die Jungen werden ihrer Freiheit beraubt und an der Gefahr für die Alten ändert sich nichts

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Lockdown bedeutet Einschluss. Der Begriff stammt aus dem Strafvollzug. Ebenso wie das Wort von der Lockerung aus dem Strafvollzug stammt. Warum nennen wir die Dinge nicht beim Namen? Wahrscheinlich, weil es dann leichter fällt, sie zu verschleiern. Also: Der Einschluss wird verlängert. Die Kanzlerin wollte es so, die Ministerpräsidenten haben zugestimmt und – traut man den Umfragen – auch die Mehrheit des Volkes ist dafür.

Wir lassen uns von diesem Virus also weiterhin in Haft nehmen. Bewirken wir damit etwas Gutes? Oder ist unsere Mühe vergeblich? Die Frage ist unerlässlich: Es geht so viel kaputt und verloren, die Kosten sind so hoch, die seelischen, die sozialen, die ökonomischen, da müssen wir doch wissen, ob es das alles wert ist.

Nach einem Jahr Corona können wir sagen: Die Antwort lautet leider nein. Denn beim wichtigsten Ziel der Corona-Maßnahmen – dem Schutz der Schwachen – hat Merkels Corona-Regierung versagt. Beinahe 90 Prozent der Menschen, die in Deutschland an Covid-19 gestorben sind, waren älter als siebzig Jahre. Auch der jüngste Einschluss, der Anfang November begann und nun bis Mitte Februar verlängert wird – und dann? – hat nichts daran geändert, dass Corona eine schwerwiegende Bedrohung für die Ältesten ist. Im Gegenteil: In den besonders gefährdeten Altersgruppen der Über-85-Jährigen sind die Infektionszahlen sogar noch gestiegen. Bei den Über-90-Jährigen lag die Inzidenzzahl Ende 2020 bei über 700.

Der jüngste Einschluss war eine kolossale Fehlleistung. Merkels Corona-Politik hat die schlechteste aller Welten erzeugt: Die Jungen werden ihrer Freiheit beraubt und an der Gefahr für die Alten ändert sich nichts. Das ist widersinnig. Aber es liegt in der Konsequenz der bisherigen Maßnahmen.

Warum haben wir nicht die Altersheime geschützt, in denen sich die meisten Infektionen der besonders Gefährdeten abspielen? Warum haben wir den Fokus der ganzen gesellschaftlichen Sorge nicht auf jene gerichtet, für die das Virus eine lebensgefährliche Bedrohung ist? Weil sich Epidemiologen, Medien und Politik sehr früh der Illusion hingegeben haben, die Krankheit könne in einem großen, gemeinsamen Kraftakt besiegt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, mussten sie der Öffentlichkeit eintrichtern, dass die Pandemie eine Bedrohung für jeden Einzelnen sei. Der Schutz besonders gefährdeter Gruppen hätte – das war die Befürchtung – das Netz der Solidarität geschwächt, auf dessen Festigkeit man sich zur Seuchenbekämpfung verlassen wollte. So wurden die Maßnahmen von einem fehlgeleiteten Ethos gelenkt, nicht von der Vernunft. Das rächt sich jetzt.

Politiker und Journalisten wunderten sich, dass die Menschen den zweiten Einschluss nicht mehr ganz so ernst nahmen wie den ersten. Dabei ist der Grund offenkundig: Die Menschen schätzen ihr Risiko, selbst zu erkranken und dann mit diesen oder jenen Folgen rechnen zu müssen, inzwischen realistisch ein. Sie verhalten sich nicht wie die Monaden, die in den Rechnerzentren der Universitäten durch die epidemiologischen Modelle gejagt werden – sondern wie Menschen.

Dieselben Politiker und Journalisten waren verblüfft, als die Meldungen die Runde machten, die Pflegerinnen in den Heimen verweigerten sich in großen Zahlen einer Impfung. Also ausgerechnet jene, die täglich in den Heimen die Alten sterben sehen. Die Verwunderten kamen gar nicht auf die Idee, das Argument umzukehren: Gerade weil die Pflegerinnen jeden Tag sehen, dass Covid-19 zuerst eine Krankheit der Alten ist, fühlen sie sich selbst davon weniger bedroht als von den unbekannten Risiken der Impfung. Sie schätzen ihr eigenes Risiko realistisch ein und nehmen in Kauf, weiterhin jene zu gefährden, in deren Dienst sie doch stehen sollten – die Alten. Man mag das selbstsüchtig nennen, unvernünftig ist es nicht.

Nach einem Jahr Corona kann man wissen: Einschluss funktioniert nicht. Zu immensen Kosten wird wenig Zeit erkauft. Das Virus ist in der Welt. Wer zur Normalität zurückkehrt, kehrt zum Virus zurück. Je deutlicher das wird, desto verzweifelter werden die Versuche, den Krieg gegen das Virus doch noch zu gewinnen: Die Initiative Zero Covid fordert, den Einschluss, der schon in Deutschland und den anderen europäischen Ländern nicht den gewünschten Erfolg brachte, auf den gesamten Kontinent auszudehnen, mit dem Ziel, das Virus de facto auszurotten.

Was diese Leute vorschlagen – alles, wirklich alles dichtzumachen – läuft darauf hinaus, die Gesellschaft zu zerstören, um sie zu retten. Im besten Fall ist das Ausdruck „persönlicher Verzweiflung“, wie der Ökonom Rudolf Hickel seine Unterschrift begründete, im schlechtesten Fall ist es Zeichen einer gefährlichen Kreuzfahrermentalität, der im Krieg gegen die Krankheit jedes Mittel recht ist. Davon hatten andere Experten wohlweislich abgesehen. Und zwar weil es nicht funktioniert. Im Sommer hatte Mike Ryan, der bei der WHO für den Umgang mit Covid-19 zuständig ist, gesagt, dass die Menschheit in absehbarer Zukunft nicht in der Lage sein werde, dieses Virus zu beseitigen: „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben.“ Jetzt wäre eine gute Zeit, damit anzufangen.

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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