Vor fünf Jahren, gleich nachdem er Präsident von Frankreich geworden war, besuchte Nicolas Sarkozy im Bois de Boulogne ein Ehrenmal für französische Widerstandskämpfer, die von deutschen Soldaten getötet worden waren. Dort las eine Schülerin den letzten Brief eines 17-jährigen Jungen vor, den dieser geschrieben hatte, bevor die Deutschen ihn erschossen. Sarkozy weinte und beschloss, dass dieser Brief künftig an allen Schulen zu verlesen sei, damit Frankreichs Kinder gemeinsam dieses Jungen gedenken sollten, der Guy Môquet hieß und ein Kommunist war.
Jetzt heißt der französische Präsident François Hollande. Er ist erst der zweite Sozialist, nach François Mitterrand, den man seinerzeit kurz „Gott“ nannte und offenbar für eine historische Ausnahme hielt. Die Geschichte von Sarkozy und Guy Môquet erklärt ein bisschen, warum die Linke in Frankreich zwar immer wichtig war, es aber nur selten an die Spitze schaffte. Wenn die gesamte politische Klasse ihre Identität auf Revolution und Résistance gründet, hat die Linke ein Problem, ihre Daseinsberechtigung zu erklären. Wofür braucht man einen Sozialisten im Élysée-Palast, wenn der konservative Präsident die französische Jugend ermahnt, eines ermordeten Kommunisten zu gedenken? Es gibt in Frankreich eine Kultur des Protestes, die von der politischen Ausrichtung unabhängig ist.
Lust am Aufstand, Furcht vor Veränderung
Frankreich ist das Land der Revolution. Das ist mehr als politische Folklore. Wie kein zweites Volk pflegen die Franzosen den Kult der Revolte. Gleichzeitig hatte die Linke es in Frankreich immer schwer. Denn eigentlich graut es den Wählern vor Veränderungen. Dennoch ist Hollandes Wahl kein Zufall. Ein vorrevolutionärer Frühling ist ausgebrochen. Denn die Lust am Aufstand und die Furcht vor Veränderung passen in Frankreich derzeit gut zusammen: die Banken und die Deutschen bedrohen die civilisation française, ihnen gilt der französische Aufstand. Früher hat sich der Zentralstaat mit dem Volk gegen die Feudalherren verbündet. Die neuen Feudalherten sitzen in der Londoner City und in Berlin. Hollandes Wahl kann zu einem europaweiten Fanal werden. Denn Zinsdiktat und Sparwahn gefährden nicht nur die französische Lebensart.
Es gehört zum französischen Selbstverständnis, sich als Wiege des modernen Humanismus zu empfinden. Dem kann Frankreich jetzt gerecht werden. Das Land hat die Gelegenheit, das eigene revolutionäre Pathos mit Inhalt zu füllen. Unweigerlich muss ja die Tradition des Protestes pathetisch werden, wenn sich jeder Bürger, der gegen eine Umgehungsstraße protestiert, in einer Ahnenreihe mit Revolutionsgardisten und Résistancekämpfern sieht.
Der bedeutende Soziologe Michel Crozier hat schon vor langer Zeit eine gewisse Unersthaftigkeit in der französischen Freude am Widerstand festgestellt. Crozier nannte die französische Gesellschaft eine communauté délinquante. Das kann man sinngemäß als „Bande von Aufsässigen“ übersetzen. Es gebe da viel Vergnügen am Kampf, aber wenig Ausdauer, wenig Solidarität und wenig Mitsprache. Normalerweise geht es im zeitgenössischen französischen Widerstand darum, die Regierung in die Knie zu zwingen, nicht darum, sie abzulösen. Die französische Linke selbst machte da die längste Zeit ihrer Geschichte keine Ausnahme. Auch sie hatte nur den Charakter einer Protestbewegung. In der Tradition von Jean Jaurès hielten sich die Sozialisten lange Jahre von der Regierungsverantwortung fern. Und erst 1969 hatte die nichtkommunistischen Linke ihre Zersplitterung überwunden und sich in der Parti Socialiste zusammengefunden.
"Es leben die Ratingagenturen!"
Mitterrand musste den „Sozialismus in einem Land“ nach drei Jahren aufgeben, weil die Kapitalmärkte den Franc unter Druck setzten. Noch vor der Wahl vom Wochenende frohlockte eine deutsche Zeitung: „Es leben die Ratingagenturen! Sie werden Frankreich auf Sparkurs halten, egal wer die Präsidentenwahl gewinnt.“ Hollande weiß, was ihm droht.
Aber wer außer ihm hätte in Europa die Möglichkeit, die verschobenen Gewichte zwischen Politik und Markt wieder neu zu justieren? Die Deutschen haben in den vergangenen 15 Jahren ihr sozialmarktwirtschaftliches Selbstverständnis den Bedingungen des globalen Kapitalismus angepasst. Anstatt den Versuch zu unternehmen, die Kräfte das Kapitals zu zügeln, haben sie sich ihnen unterworfen. Sie sind dabei zu Musterknaben der Märkte geworden. Nie waren die Zinsen für Deutschland günstiger. Die Märkte belohnen, wer ihnen gehorcht. Um das politische Ziel der Europäischen Einigung kümmern sich die Märkte gar nicht und die Deutschen immer weniger. Sie merken noch nicht, dass der politische Preis den ökonomischen Gewinn bei Weitem übersteigen wird.
François Hollande kann jetzt ganz Europa daran erinnern, dass es in der Politik nicht nur um solche Werte geht, die sich in den Taschenrechner eingeben lassen. Es wäre ein erster Schritt, wenn der Europäische Stabilitätsmechanismus eine Banklizenz bekäme und die öffentliche Finanzierung dadurch von den menschenfeindlichen Mechanismen der Märkte abgekoppelt würde. Dafür muss Hollande kämpfen. Und im nächsten Jahr könnte sich ein SPD-Kanzler in diesen Kampf einreihen. Europa braucht ein neues sozialdemokratisches Zeitalter.
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