Maßstab Natur

Koch oder Gärtner Wie ist die Natur dem Menschen zum Maßstab geworden? Der Gärtner beschäftigt sich mit Grundsätzlichem und bittet Wetterkolumnisten, sich zu bewerben

Liebe Gartenfreunde, lassen Sie mich noch kurz etwas zur Natur sagen. Wenn man überlegt, wie alt die Kulturgeschichte ist, dann ist die Geschichte der Natur jung. Man könnte sagen, es gibt die Natur noch gar nicht so lange.

Noch im Barock fand die Natur im besten Fall als sinnlicher ­Lustgewinn oder als heilsgeschichtliche Allegorie statt. Aber sie hatte keine moralische Qualität. Tugend, Weisheit, Vollkommenheit – erst in der Aufklärung wird die Natur dem Menschen zum Maßstab. Das ist sie bis heute.

Wir sind da alle Kinder Rousseaus. In der Mitte des 18. Jahrhunderts hat er die Verderblichkeit der ­Städte besungen, in denen die zusammengepferchten Menschen keinen natürlichen Rhythmen mehr gehorchen, die Nacht zum Tag machen, die Gesetze der Jahreszeiten missachten, ameisenhaft durcheinander wuseln, an Entfaltungs- und Bewegungsmangel leiden und sich dadurch nicht nur der äußeren, sondern auch ihrer innerlichen Natur entfremden. In Emile schreibt er, „Krankheiten und Laster sind die Folge dieser Zusammenrottung … Städte sind das Grab der Menschen. In wenigen Generationen sterben die Familien aus oder entarten. Man muss sie erneuern, und diese Erneuerung kommt immer vom Land. Schickt also eure Kinder auf das Land, damit sie dort inmitten der Felder die Kräfte holen, die man in der ungesunden Stadtluft verliert.“

Idolisierung der Natur

In Deutschland haben Jean Paul, Hölderlin, Tieck und Brentano eine wahre Idolisierung der Natur betrieben. Hölderlin nennt sie „die mächtig, die göttlichschöne“. Von der Mutter Natur ist seit dieser Zeit die Rede. Und es ist die alles beherrschende Sehnsucht, mit dieser Mutter eins zu werden, in ihr zu versinken, zurückzukehren in ihren Schoß. Dem Homo faber der Renaissance wäre das ein unsinniger Gedanke gewesen. Gut.

„Doch nichts mehr von Natur.

Ein hold ergötzend Märchen ists der Kindheit

Der Menschheit von den Dichtern, ihren Ammen,

Erzählt.“

Schreibt Kleist in der Familie Schroffenstein. Mir ging das Thema nun noch einmal durch den Kopf, vielleicht auch, weil das Wetter nicht so ist, dass man seinen gärtnerischen Pflichten gerne gehorchen möchte. Ich bin ja ein bisschen enttäuscht, ja geradezu verbittert über diesen Sommer. Bitte, was zu viel ist, ist zuviel. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein so über­ragendes Interesse an den Wettermeldungen wie in den vergangenen Wochen. Ich lese jede Geschichte in ungeduldiger Erwartung, von der ich mir Aufklärung über den Stand der meteoro­logischen Angelegenheiten versprechen darf. Und ich stelle fest: Es fehlt in Deutschland eine ­Wetterkolumne. Ich möchte eine einrichten.

Also ein fester Platz, auf dem wöchentlich über das aktuelle Wetter, seine Einbettung in die Historie der Aufzeichnungen und seine Bedeutung für unser Land berichtet wird. Das Wetter hat bekanntlich vielfältige Bedeutung: Kulturgeschichtliche, ökonomische, ­sozialpsychologische, demografische.

Wenn man außerdem dann noch bedenkt, dass das Wetter buchstäblich jeden interessiert, dann ist es mehr als verblüffend, dass es keinen prominenten ­Wetterkolumnisten gibt.

Zu kurzfristige Wetteraussichten

Die Aufgabe wird von den TV-Moderatoren naturgemäß nicht ausgefüllt. Sie stehen mit ­rudernden Armen vor ihren ­Bluescreens, wischen über die Wolkenfelder hinweg, und ihr Gedächtnis reicht nicht mal bis zur eigenen Vorhersage des Vortages zurück. Dabei würde die Einbettung in einen ­größeren historischen Zusammenhang das Ertragen so mancher Wetterlage erheblich erleichtern. Es kommen bei den Moderatoren vermutlich ­Faulheit und Unbildung zusammen.

Bemerkungen über den tief ­gefallenen Jörg Kachelmann, der ­entweder ein armes Opfer ist oder ein schlimmer Täter, vermutlich aber beides, erspare ich mir hier.

Also, der Posten meines ­Wetterkolumnisten ist vakant und ich nehme ab sofort Bewerbungen entgegen: Gesucht wird ein ­Wetterhistoriker, der kenntnisreich und lesbar schreiben kann und mich davon ablenkt, dass ­dieser Sommer so deprimierend ist, wie es lange keiner war.

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Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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