Marcel Fratzscher über steigende Preise: „Das ist sozialer Sprengstoff!“
Interview Fallen die Preise, wenn Krieg und Corona vorüber sind? Marcel Fratzscher glaubt das nicht. Jakob Augstein hat der Ökonom verraten, warum es Zeit für höhere Löhne ist. Und wieso wir uns keine Sorgen um eine „Lohn-Preis-Spirale“ machen müssen
Von Preiskontrollen hält der Ökonom Marcel Fratzscher: gar nichts
Foto: Philipp Plum für der Freitag
Im Rahmen der „konzertierten Aktion“ traf sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gerade mit Gewerkschaften und Arbeitgebern, um einen Weg aus der Krise zu suchen. Die Inflation liegt bei knapp acht Prozent. Warum jetzt trotzdem die Zeit für höhere Löhne ist, verrät der Ökonom Marcel Fratzscher im Gespräch mit Freitag-Verleger Jakob Augstein.
Jakob Augstein: Herr Fratzscher, wäre es angesichts der hohen Inflation nicht an der Zeit für ein neues „Follow the Science“ wie in der Coronakrise – nur dass man diesmal Ökonomen fragt? Warum sind Sie nicht der neue Drosten?
Marcel Fratzscher: Naja, was im Augenblick passiert, ist ja kaum wissenschaftlich zu erklären – anders als in der Pandemie. In der Naturwissenschaft
wissenschaftlich zu erklären – anders als in der Pandemie. In der Naturwissenschaft können Sie akkurate Prognosen machen, weil es um Naturgesetze geht. Das Wunderbare an meiner Wissenschaft ist, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Aber wie soll ich prognostizieren, ob einer wie Wladimir Putin morgens mit dem falschen Bein aufsteht?Im Mai lag die Preissteigerung bei 7,9 Prozent. Das ist so hoch wie seit 50 Jahren nicht mehr. Warum ist das gerade so?Das sind zwei Dinge. Zum einen der Krieg in der Ukraine. Der hat dazu geführt, dass weniger Energie exportiert wird und dadurch die Kraftstoffpreise weltweit durch die Decke schießen. Zweitens die Pandemie. In deren Verlauf hat China einige Häfen geschlossen, wodurch es überall zu Lieferkettenproblemen kommt – bis heute.Heizöl ist fast doppelt so teuer wie letztes Jahr, Weizen 40 Prozent. Die gefühlte Inflation ist höher als acht Prozent, oder?Ja, das ist kognitive Wahrnehmung. In der Regel sagt man, die gefühlte Inflation kann leicht doppelt so hoch sein wie die wirkliche. Der wichtige Punkt ist aber, dass wir eine zutiefst unsoziale Inflation erleben. Denn welche Dinge werden teurer? Energie und Nahrungsmittel. In unseren Studien haben wir gezeigt, dass Menschen mit geringem Einkommen das Vier, Fünf- und Sechsfache ihres monatlichen Einkommens für Energie und Lebensmittel ausgeben im Vergleich zu Menschen mit hohen Einkommen. Und die Ärmeren haben ja keinen Schutzmechanismus in Form von Ersparnissen. Die können nicht hingehen und sagen, ach, ich habe jetzt 150 Euro Mehrausgaben im Monat? Dann nehme ich einfach was vom Sparbuch.Glauben Sie, wenn Krieg und Pandemie vorbei sind, werden die Preise wieder fallen?Nein. Nehmen wir mal die fossilen Energieträger. Die richten einen enormen Schaden an Natur und Umwelt an. Trotzdem werden Kohle, Öl und Gas in Deutschland jedes Jahr mit 65 Milliarden Euro subventioniert – das sind 1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Wir Ökonomen wollen ja immer, dass die Preise nicht nur den Wert für Konsumenten widerspiegeln, sondern auch die externen Kosten, die sie verursachen. Wenn wir es ernst meinen mit der ökologischen Transformation, müssten die mit fossiler Energie hergestellten Güter zusammengenommen 65 Milliarden Euro mehr kosten.Placeholder authorbio-1Gut, jetzt reden Sie wie ein Grünen-Politiker. Funktioniert die Welt wirklich so?Sie meinen, dass über höhere Preise die richtigen Anreize gesetzt werden können?Nein. Ich meine: Werden bald alle ihr Auto stehenlassen, weil Robert Habeck das so will? So ein Prozess dauert doch normalerweise Jahrzehnte.Jetzt werden Sie mir gleich wieder vorwerfen, ich würde wie ein Grüner reden. Aber die Umstellung geht sogar viel zu langsam. 1,5 Grad sind ja kein politisches Ziel, nur weil sie auf der Pariser Klimakonferenz beschlossen wurden – das ist Wissenschaft. Wenn wir in zehn Jahren oder noch später unsere Enkel eine lebenswerte Welt haben wollen, müssen wir die Erderwärmung auf 1,5 Grad begrenzen. Das nennt sich Generationengerechtigkeit.Eigentlich wollte ich Sie jetzt fragen, was der Staat gegen die höheren Preise tun soll. Aber Sie wollen gar nicht, dass die Preise sinken. Sie wollen die Leute zu mehr Klimaschutz erziehen.Nein, das ist nicht paternalistisch. Der deutsche Staat kann gegen die Inflation gerade nichts tun. Wäre ja schön, wenn die Bundesregierung Putin stoppen könnte. Kann sie aber nicht. Aber sie kann die höheren Preise sozial abfedern. Jemand mit 1.500 Euro Nettoeinkommen, der auf einmal 200 Euro mehr im Monat braucht für Energie und Nahrungsmittel, kann damit nicht umgehen. Aber die Politik kann sagen: Okay, wir können den Preis nicht drücken, aber hier hast du 200 Euro als Puffer.Dann haben Sie aber keinen Erziehungseffekt mehr, weil die Leute sagen: super, ab damit in den Tank!Sehen Sie, und das ist der fundamentale Unterschied zwischen einer Energiepauschale und einem Tankrabatt! Der Liter Benzin sollte 30 Cent günstiger werden. Hat aber nicht so gut geklappt, weil die Mineralölkonzerne einen Teil des Geldes einbehalten haben. Aber auch wenn es funktioniert hätte, wäre es keine gute Idee gewesen, weil es den Preis von Benzin künstlich reduziert und dann mehr Leute in ihr Auto steigen. Besser ist es, diejenigen, die das Geld wirklich benötigen, selbst entscheiden zu lassen, ob sie es für Essen, Benzin oder ein ÖPNV-Ticket ausgeben.Sind Sie für Preiskontrollen? In Frankreich darf das Baguette nie mehr als einen Euro kosten.Sie mögen also Baguette.Ja! Billige Baguettes sind für mich die letzten Residuen der Französischen Revolution!Ich halte davon gar nichts. Klar, die Idee, dass die Grundversorgung aller Menschen sichergestellt ist, gefällt mir. In Italien gilt Kaffee als Grundnahrungsmittel. Wenn Sie da irgendwo am Tresen stehen, muss die Tasse einen Euro kosten.Ginge so was hier nicht auch?Es gibt viel bessere Wege. Wenn wir den Menschen ordentliche Einkommen geben, können sie selbst entscheiden, wofür sie das Geld ausgeben.Aber dann passiert das, wovor die FDP Todesangst hat: die Lohn-Preis-Spirale.Genau. Das ist das große Tabu und Schreckgespenst im Augenblick. Dass die Gewerkschaften kommen und sagen, tja, wegen der Inflation müssen wir jetzt auch acht Prozent mehr Lohnsteigerung aushandeln. Und dann erhöhen die Unternehmen die Preise, weil sie höhere Personalkosten haben und so weiter. Aber so eine Lohn-Preis-Spirale sehen wir im Moment nicht. In diesem Jahr rechnen wir mit durchschnittlichen Lohnerhöhungen von 4,5 Prozent. Heißt, die meisten Menschen haben real zwei bis drei Prozent weniger in der Tasche als vor der Inflation. Außerdem sind weniger als die Hälfte aller Jobs in Deutschland von Tarifverträgen gedeckt. Gewerkschaften haben längst nicht mehr so viel Macht wie früher.„Konzertierte Aktion“ ist ein Begriff, der in die öffentliche Debatte zurückgekehrt ist. Was ist das?Die Idee stammt vom Ende der 60er-Jahre, als die Inflation erstmals wieder stieg. Damals wurde versucht, Arbeitgeber und -nehmer an einen Tisch zu bekommen, um sie zu guten Deals zu zwingen, ohne dass die Wirtschaft Schaden nimmt. Meine Sorge ist, dass die Politik jetzt Druck auf die Gewerkschaften macht und sagt: bitte keine Lohnerhöhungen! Das wäre falsch, denn gerade Menschen mit geringen Einkommen brauchen jetzt eine dauerhafte Entlastung. Die Arbeitgeber müssen Zugeständnisse machen, beispielsweise bei der Tarifbindung, und die Bundesregierung darf jetzt nicht das Dogma der Schuldenbremse engstirnig verfolgen, sondern muss diesen Schock sozial wie wirtschaftlich durch eine expansive Finanzpolitik und vor allem öffentliche Investitionen abfedern.