Satire darf was? Alles. Damit könnte man die Sache erledigen, aber offenbar ist das unbefriedigend. Denn wir sind nicht im Jura-Seminar, sondern in der öffentlichen Debatte – und in der muss sich die Karikaturistin Franziska Becker gerade den Vorwurf anhören, manche ihrer Zeichnungen seien rassistisch und antimuslimisch. Und weil nicht alles, was erlaubt ist, auch erträglich ist, endet die Debatte nicht mit dem Satz, dass Satire alles darf – sie beginnt damit erst. In Alice Schwarzers Emma schreibt der Karikaturist Laurent Sourisseau: „Humor zielt auf Dummheit, Mittelmäßigkeit, Lächerlichkeit, Feigheit und sämtliche sonstige Zustände der menschlichen Seele. Das heißt, er zielt auf jeden. Wer wäre so anmaßend, von sich zu behaupten, er hätte sich noch nie getäuscht, oder noch nie Dummheiten von sich gegeben? Niemand.“
Emma hatte den Franzosen Sourisseau, Künstlername Riss, gefragt, was er von den Vorwürfen gegen Beckers Karikaturen hält. Sourisseau hat das Charlie-Hebdo-Massaker verwundet überlebt. Diese Erfahrung gibt ihm eine einzigartige Perspektive auf das Thema. Aber der größte Respekt vor seinem Schicksal und dem der Charlie-Hebdo-Redaktion war schon in der Vergangenheit kein Hinderungsgrund, vielen Karikaturen des Heftes denselben Vorwurf zu machen, mit dem sich die deutsche Zeichnerin Becker jetzt auseinandersetzen muss. Damit rechtfertigt man keineswegs die Morde an den Zeichnern und Kollegen der Redaktion, wie Alice Schwarzer in der Welt kurzschlüssig geschrieben hat – das war ein brutaler Gedanke der Publizistin, die sich weit von den liberalen Idealen entfernt hat, für die sie einst so erfolgreich stritt.
Sinn und Kontext
Viele Karikaturen, die Charlie Hebdo druckte, waren antimuslimisch, weil sie sich im objektiv bestehenden Machtgefälle zwischen christlicher Mehrheits- und muslimischer Minderheitsgesellschaft auf die Seite der Starken stellten und den Spott von oben nach unten gossen. Erstaunlicherweise legt Riss in der Emma nahe, dass er die muslimischen Migranten in Frankreich nicht im gesellschaftlichen Unten sieht.
Man scheut sich als Deutscher, einem Franzosen einen Besuch in Courneuve oder einen Blick auf die Zahlen des französischen Statistikinstituts INSEE zu empfehlen – aber hilfreich wäre hier beides. Riss’ Argumentation zeigt dieselbe Schwäche, die auch die antimuslimischen Karikaturen haben: Sie ignoriert, dass jede veröffentlichte Satire in einem bestimmten gesellschaftlichen und politischen Kontext steht, in dem sie wahrgenommen wird und überhaupt erst ihren Sinn entfaltet. Nur in diesem Kontext lässt sich entscheiden, ob die Satire befreit oder unterdrückt. Ob sie die Schwachen verteidigt oder sich in den Dienst der Starken stellt.
Die Art von Freiheit, die der Zeichner Riss da verteidigen will – und deren „humorlose Feinde“ die FAZ in seinem Gefolge dann angegriffen hat –, dient immer dem Starken und kann darum selbst zu einem Instrument der Unterdrückung werden. Wenn die Titanic ein Bild des Papstes zeigt, der sich selbst vollgepinkelt hat, ist das lustig, weil die katholische Kirche in Deutschland immer noch eine mächtige Institution ist. Wenn Beckers Cartoon eine Kopftuch-Kindergärtnerin zeigt, die ihre Schutzbefohlenen ein „Mullah Memory“ spielen lässt, ist das nicht lustig, sondern rassistisch und muslimfeindlich. Denn kopftuchtragende Kindergärtnerinnen sind keine gesellschaftliche Macht, mit der man sich anlegen muss, die man kontrollieren und brechen muss. Von ihnen geht keine Bedrohung aus, auf die man mit dem Mittel des Spotts zu reagieren hat.
Die New York Times hat erklärt, sie werde auf Karikaturen künftig verzichten, nachdem eine Zeichnung kritisiert worden war, die den blinden Donald Trump zeigt, der sich vom Dackel Netanjahu führen lässt. Der Vorwurf lautete: Die Karikatur bediene antisemitische Klischees. Niemand wäre bis dahin auf die Idee gekommen, der NYT ein antisemitisches Bias zu unterstellen. Das Beispiel legt die Vermutung nahe, dass israelische Politik und israelische Politiker kaum Gegenstand von Satiren sein können, ohne den Antisemitismus-Vorwurf zu zeitigen.
Das wiederum würde entsprechende Satiren umso notwendiger machen. Denn eines liegt auf der Hand: Der Staatschef Benjamin Netanjahu ist ein sehr mächtiger Mann – die muslimische Kindergärtnerin in Franziska Beckers Cartoon dagegen nur: eine Kindergärtnerin.
Kommentare 21
ja, man darf auch die schwachen karrikieren!
die fahrlässig-naiven denk-verweigerer, drückeberger,
verantwortungs-verschieber/-flüchtlinge.
oda?
...und die anmaßenden dumm-schwätzer,
die eine welt-anschauung haben, ohne die welt angeschaut zu haben.
(alexander von h.)
Wenn Satire so humorlos als reines Mittel zum Zweck (der Vermittlung von Moral) aufgefasst wird, mag es sich verhalten, wie Augstein darlegt. Satire ist aber immer mehr als das gewesen, Freude am Sprachspiel und am Sprachwitz, intellektueller Rausch, der Versuch, ernsthaft wehzutun, dergleichen. Und sie wurde zu jeder Zeit, in der es sie gab, von allen Seiten gegen alle Seiten eingesetzt. Vermutlich muss Hypermoral das anders sehen ... muss sie? Augstein erweckt zumindest den Anschein. Genauso wie er über mir unbekannte Informationsquellen zu verfügen scheint, die belegen, dass in der französischen (oder deutschen) Gesellschaft ein Konsens hinsichtlich der Charakterisierung und des geeigneten Umgangs mit den verschiedenen Erscheinungsformen islamischer Religiosität bestünde. Der Vorwurf des Rassismus, derart plakativ im Rundumschlag ausgeteilt, ist wohlfeil. Und wenn die NYT keine Karikaturen mehr veröffentlichen will, ist das ein großer Sieg. Für die Dummheit.
Aber es war schon immer eine beliebte kognitive Fehlleistung, anzunehmen, dass die Dinge, sofern sie nur unter der Sichtbarkeitsgrenze gehalten werden können, nicht mehr da sind.
Augstein hat recht, viele Karikaturen sind bösartig, treten noch die Schwachen. Allerdings hat Lethe auch recht, es macht keinen Sinn, pc zu fordern, letztenendes von Menschen, die sich öffentlich äußern, zu fordern, daß sie sich immer auf die Seite der Schwachen stellen (und danach ihre Worte oder Zeichnungen wählen). Ich denke, unser Rechtssystem ist klüger, es fordert nur, gewisse Grenzen einzuhalten, Grenzen des erlaubt Sagbaren, Darstellbaren.
So soll man auch Rechte weitgehend sagen lassen, was sie sagen wollen. Es gibt die Grenze, und natürlich ist es ein Armutszeugnis, wenn man rassistischen oä Karikaturen im Sinne von Augstein nicht widerspricht. Ich fand es falsch, die Mohammed-Karikaturen wegzuzensieren, dem illiberalen Druck nachzugeben, aber es war auch erbärmlich affirmativ, antihuman, der bösartigen Seite der Zeichnungen nicht zu widersprechen. Und die künstlerisch höchste und politisch notwendigste Form der Karikatur ist die Selbstkarikatur.
Das betrifft zusätzlich Fragen der Genzziehung und der Perspektive. Was ist tatsächlich "bösartig", was nicht? Mit der Papstkarikatur wurden die Gefühle von Millionen Katholiken beleidigt, die nicht das Geringste für ihre Hirten können. Zulässig oder nicht? Augsteins Argumentation lässt sich nur auf Grundlage einer Vorabverfügung auf die Kritik antimuslimischer Karikaturen begrenzen. Der Rest der Leute scheint ihm gleichgültig zu sein.
Aber letztlich ist es in jeglicher Hinsicht Unfug und eine contradictio in adjectu, von Satire die Einhaltung genehmer political correctness zu fordern. Genauso gut kann ich von einem Kreis fordern, rechteckig zu sein. Es ist nicht die Aufgabe von Satire, gerecht zu sein oder die Schwachen zu schützen oder wenigstens zu verschonen. Die Kultur der "vorauseilenden Empfindsamkeit" löst langsam aber sicher ohnehin jegliche Diskursfähigkeit auf.
»(…) Wenn Beckers Cartoon eine Kopftuch-Kindergärtnerin zeigt, die ihre Schutzbefohlenen ein „Mullah Memory“ spielen lässt, ist das nicht lustig, sondern rassistisch und muslimfeindlich.«
Falsch. Wenn Beckers Carton eine Kopftuch-Kindergärtnerin zeigt, die ihre Schutzbefohlenen ein »Mullah Memory« spielen lässt, ist dies eine sarkastische Spitze gegen eine Religion, von der auch große Teile ihres Mainstreams ein zutiefst patriarchalisches, repressives, autoritäres und potenziell ausgreifendes Gesellschaftsbild hegen. Die Detailpointe ist ebenso treffsicher: Oder ist es sachlich unzutreffend, dass das Schriftgelehrtentum in der muslimischen Welt eine außerordentlich große Rolle spielt, und auch die Auseinandersetzungen zwischen gemäßigten und fundamentalistisch orientierten Anhängern dieser Religion vorwiegend über die Auslegung des reichhaltigen historischen Textoeuvres – also innerhalb des vorgefundenen Kanons – vorgenommen wird?
DASS große Teile der (hier lebenden) Muslime ein Gesellschaftsbild pflegen, dass patriarchisch-rigide, teils demokratie-unkompatible, in Teilen auch missionarische Komponenten enthält, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Konträrer Ansicht kann man sicher darüber sein, wie stark diese Vorstellungen in der Geistes- und Gefühlswelt normaler durchschnittlicher Muslime präsent sind (auch bei den Christen stellten die, welche lediglich den Grundanforderungen ihrer Religion Genüge taten, stets das Hauptkontingent). Streiten kann man sich auch, ob die (mittelalterliche) Religion der Gesellschaftsmehrheit und die (mittelalterliche) Religion von Menschen, die rassistisch drangsaliert und sozial ausgegrenzt werden, auf eine Stufe gestellt werden können.
Ich persönlich bin mir bei Letzterem unsicher und plädiere schon aus grundsätzlichen Erwägungen bei derlei Dingen, im Zweifelsfall stets fünf gerade sein zu lassen. Der springende Punkt ist allerdings, dass Karikaturen und Vorab-Geschmacksprüfungen sich schon vom Wesenskern her beißen. Heißt: Wenn Karikaturen nur noch dann erscheinen dürfen, wenn ein Augstein, irgendjemand anderes oder auch ein Zietz sie abnickt oder wohlwollend goutiert, ist ziemlich was faul im Staate Dänemark.
Schlicht und simpel heißt dies: »Gut finden« ist für Karikaturen kein Kriterium. Und »gottseidank« haben sie in der bürgerlichen Demokratie westlichen Zuschnitts ein Existenzrecht jenseits von Gefallen und Nicht-Gefallen. Eine »Scharia« nach Maßgabe einer wie auch immer verstandenen »Political Correctness« ist sicher das Letzte, was dazu dienlich ist, den urbanen Lifestyle (zu dem neben entsprechenden Meinungen auch eine unübersehbare Vielfalt divergierend-bunter Lebensstile gehört) und die mit ihm untrennbar verbundene Liberalität zu erhalten.
Das ist keine Einfache Thematik und verlangt nach einer differenzierten Sicht:
Wie will man etwas Grenzen setzen, das von seinem Selbstverständnis her Grenzen überschreiten will und muss, weil es genau davon lebt?
Bei dieser Erkenntnis könnte man es belassen. Dann aber existieren nur die gesetzlichen Einschränkungen, die allerdings in jedem Land andere sind. Die Begrenzung beispielsweise auf nur von „unten nach oben“ erscheint in diesem Zusammenhang ohne jegliche Grundlage.
Ja, es stimmt, dass Satire immer nur im konkreten Umfeld gesehen werden sollte, dem sie entwachsen ist. Dennoch gibt es selbst dort immer schon ganz verschiedene Blickwinkel. Was für den einen adäquat ist, stellt für den anderen bereits eine nicht tolerierbare Grenzüberschreitung dar. Wie aber ist es dann erst in globalen Zusammenhängen, ist doch vieles inzwischen in sehr vielen Lebensumfeldern verfügbar? Wer gibt sich denn heutzutage auch nur im Ansatz die Mühe, etwas von seinem eigentlichen Kontext her zu verstehen, also so, wie etwas gemeint ist? Im Zusammenhang mit übertriebener political correctness wird doch häufig nur noch dem die Schuld für Missverständlichkeit gegeben, der sich etwas auszudrücken „wagt“, und in keiner Weise dem, der etwas so versteht, wie es ihm gerade in den Kram passt.
Menschen neigen dazu, sich über so vieles zu amüsieren, häufig auch auf Kosten anderer, sogar dann, wenn es genaugenommen gar nichts zu lachen gibt! Jeder Witz und jedwede Satire die diese niederen Verhaltensweisen der Menschen bedient, sollte heutzutage auf gesellschaftliche Ablehnung stoßen. Darauf sollte man sich schnell einigen können. Wer aber hat schon den Mut, dem konformistischen Sumpf zu entsteigen, dieses einzuklagen und aufrecht Stellung zu beziehen, obwohl dieses bitter notwendig wäre? Bedauerlicherweise sind dies immer noch viel zu wenige!
Satire, die fehlerhafte Zustände zu Recht anprangert, indem sie die Inhalte ins Lächerliche zieht, sollte sich aber stets davor hüten, Personen oder deren Institutionen komplett der Lächerlichkeit preiszugeben. Dazwischen läuft die unsichtbare, aber zu berücksichtigende Grenze der Würde. Weiterhelfen könnten diesbezüglich die vom „InterAction Council formulierte, den Vereinten Nationen 1997 vorgelegte, aber bis heute noch nicht beschlossene „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“
https://www.weltethos.org/1-pdf/20-aktivitaeten/deu/politik/menschenpflichten.pdf.
▪ „Art. 1 Jede Person, gleich welchen Geschlechts, welcher ethnischen Herkunft, welchen sozialen Status, welcher politischen Überzeugung, welcher Sprache, welchen Alters, welcher Nationalität oder Religion, hat die Pflicht, alle Menschen menschlich zu behandeln.
▪ Art. 2 Keine Person soll unmenschliches Verhalten, welcher Art auch immer, unterstützen, vielmehr haben alle Menschen die Pflicht, sich für die Würde und die Selbstachtung aller anderen Menschen einzusetzen.
▪ Art. 4 Alle Menschen, begabt mit Vernunft und Gewissen, müssen im Geist der Solidarität Verantwortung übernehmen gegenüber jeden und allen, Familien und Gemeinschaften, Rassen, Nationen und Religionen: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
▪ Art. 13 Keine Politiker, Beamten, Wirtschaftsführer, Wissenschaftler, Schriftsteller oder Künstler sind von allgemeinen ethischen Maßstäben entbunden …“
▪ „Art. 14 Die Freiheit der Medien, die Öffentlichkeit zu informieren und gesellschaftliche Einrichtungen wie Regierungsmaßnahmen zu kritisieren - was für eine gerechte Gesellschaft wesentlich ist -, muss mit Verantwortung und Umsicht gebraucht werden. Die Freiheit der Medien bringt eine besondere Verantwortung für genaue und wahrheitsgemäße Berichterstattung mit sich. Sensationsberichte, welche die menschliche Person oder die Würde erniedrigen, müssen stets vermieden werden.“
Legt man als allgemeinen ethischen Maßstab also die Achtung der Würde eines Einzelnen und die Beachtung der Goldene Regel zugrunde, so lassen sich zumindest Orientierungspunkte erkennen. Dabei sollte man in den heutigen „globalen Zeiten“ allerdings berücksichtigen, dass sich das Prinzip der Goldenen Regel im interkulturellen Kontext nicht 1:1 übertragen lässt. Was im eigenen kulturellen Kontext für einen selber völlig akzeptabel erscheint, kann in einem anderen kulturellen Kontext völlig inakzeptabel sein. Legt man selber also auf Angemessenheit wert, dann muss man dies vor allem auch bei kulturübergreifender Satire angemessen berücksichtigen, damit dies beim Empfänger ebenfalls als angemessen wahrgenommen werden kann. Eine derartige Haltung entspräche einer sinnvollen Handhabung des Prinzips der Goldenen Regel. Allerdings stehen hier Sender und Empfänger gleichermaßen in der Verantwortung: Sowohl der Bezugsrahmen des Senders als auch der des Empfängers sollte von beiden so gut wie möglich berücksichtigt werden. Es muss also stets um das richtige Austeilen und das richtige Empfangen gleichermaßen gehen. Nur, wenn beide Seiten dies beherzigen, lässt sich ein konkretes Beispiel auf seine mögliche Verwerflichkeit hin untersuchen. Ansonsten diskutiert man die Dummheit des einen oder des anderen, was immer nur dumm ist und zwangsläufig dumm bleibt.
Lässt sich bei der Satire dann auch noch konstruktive Absicht erkennen, so sollte diese selbst in einem kulturübergreifenden Zusammenhang kein Problem darstellen. Selbstverständlich darf in diesem Sinne die Mehrheit auch Inhalte der Minderheit satirisch in Frage stellen.
Satire wird aber immer dann zu einem Problem, wenn sie in erster Linie der Effekt- oder Sensationshascherei auf Kosten Dritter dient, um durch eine eigentlich inakzeptable Grenzüberschreitung (s. o.) möglichst große Aufmerksamkeit zu erzielen und so die Medienverbreitung und das Satiriker-Ego auf Kosten anderer aufzublasen. Dies sollte vermieden werden und fällt sowohl in den Verantwortungsbereich der Satiriker und der Medien. Hierauf sollte man sich konzentrieren und nicht das Kinde mit dem Bade ausschütten, indem man Satire in seinem Rahmen abschafft.
Moin,
die Grundaussage von Jakob Augstein unterstütze ich durchaus, aber ich rätsele etwas über das Beispiel. Warum? Vielleicht liegt es daran, dass ich den kleinen Aufschrei um Franziska Becker neulich nicht mitbekommen habe und sie auch nicht kenne. Aber das herrlich absurde Beispiel mit der Kindergärtnerin lese ich in erster Linie zunächst einmal als Kommentar gegen wutschäumende Forderungen eines Kopftuchverbots, so in die Richtung, "Wovor habt ihr eigentlich Angst? Davor? Echt jetzt?" - Über die implizite Aussage kann man sich ja streiten (was ja eine gute Idee ist). Aber als echte, also ernstgemeinte, Keile gegen Kindergärtnerinnen mit Kopftuch lese ich die Zeichnung nicht. Aber das liegt neben meiner Ignoranz, Franziska Becker betreffend, meinetwegen auch meiner Naivität, vielleicht daran, dass ich satirische Werke erst einmal immer so lese wie von Augstein gefordert: befreiend, nicht unterdrückend. Die von Augstein und allen bisherigen Kommentator*innen nahegelegte Lesart ist gleichwohl möglich, das gebe ich zu; nur liegt sie mir deutlich ferner. Insofern hätte ich mir ein klareres Beispiel gewünscht.
Gruß in die RundeMison
Befremdlich ist, dass die Karikaturistin, der Autor des Artikels sowie einige Blogger den inzwischen inkriminierten, weil veralteten Begriff "Kindergärtnerin" bedenkenlos benutzen. Eine hier sogenannte "Kindergärtnerin" hat den Beruf der Erzieherin erlernt, die nicht im "Kindergarten", sondern in der Kindertagesstätte arbeitet. Ein Journalist wird seinen Beruf mit Sicherheit nicht als "Schreiberling" angeben. Er wird diese Bezeichnung mit großer Wahrscheinlichkeit als diskriminierend ansehen.
Wer derart gedankenlos für die "die Schwachen" Solidarität heuchelt, täuscht Anteilnahme vor, sonst würde ihm(!) dieser Fauxpas nicht unterlaufen. Da schwebt immer noch die "Kindergartentante" mit, deren vornehmste Qualifikationen vor allem die liebevolle Zuwendung, die Freude am Malen, Singen, Helfen, Versorgen zu sein hätten.
gerade der ausdruck "kindergarten" hat in der welt aber einen guten klang.
siehe auch den am 9.juli bearbeiteten wiki-artikel-->kindergarten.
Das spielt eine untergeordnete Rolle oder gar keine. Auch wenn der Begriff internationalisiert wurde, bedeutet dies keinesfalls, dass er so verstanden wird: als Garten mit Kindern. Allein die von diesem Begriff hervorgerufene Assoziation, dass man Kindern den Pflanzen gleichsetzt, denn diese gedeihen üblicherweise in dem so bezeichneten Areal, ist bedenklich, weil sie die erzieherische Auffassung von vor mehr als 100 Jahren wiedergibt. In aktuellen Gesetzestexten, wie das Dez. 2018 erlassene "Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung" kommen zurecht weder Kindergarten noch Kindergärtnerin vor.
Das gilt auch für den Begriff "Lehrling", dem eine diskriminierende Sichtweise anhaftet. Aus ihm wurde der oder die "Auszubildende".
und aus dem "auszubeutendem" wurde der "mitarbeiter". :-)
korr.: n für m
Sicher, man kann vieles hineindenken, was im Alltag anders gesprochen und gefühlt wird. Da ist halt vieles "noch" nicht angekommen.
Es gibt halt das "aufhübschen" alter Berufsbezeichnungen, die weder eine bessere Bezahlung noch eine inhaltliche Anreicherung begleiten.
Da wird ein Ausbildungsberuf aufgesetzt und doch tatsächlich behauptet, die Lerninhalte würden 2 bis 3 Jahre Ausbildung erfordern. Was dann oft der Fall ist, dürfte eher einer billigen Phase für den Arbeitgeber entsprechen, wenn ich als Beispiel die Gebäudereinigung nehme. Denn letztlich zählt in dem Gewerbe (vor allem mit Frauen in der Hotel- und Urlaubsbranche) nur eines, nämlich in möglichst kurzer Zeit Vorgaben einzuhalten, die mit der Normzeit (bezahlte Zeit = Anzahl der Zimmer) nicht zu erbringen ist. Raumpfleger oder Reinigungskraft klingt doch gleich besser, zumal Putzfrau nicht gender neutral war!
Aber der gewünschte Effekt mag auf Bewerber in einigen Bereichen zutreffen und die Ernüchterung (Abbrecher) dann später.
Mehr davon hier.
@ pleifel & denkzone8
Ich bestreite nicht, dass das "Aufhübschen" der einen oder anderen Berufsbezeichnung ein Plazebo ist. Doch bei dem Berufsbild des Erziehers/der Erzieherin trifft dieser Ansatz nicht, da es sich um einen mehrjährigen Ausbildungberuf handelt, der mit "Kindergärtnerin" völlig unzureichend beschrieben ist, ja eine verächtlichmachende Polemik darstellt. Das sollte die Journalistenbranche als Vervielfältigerin beherzigen.
Die im Link zitierte Kita-Leiterin sieht den wohlwollenden Eltern nach, wenn sie und ihre Kolleginnen "Kindergärtnerinnen" genannt werden. Aber, so steht es im Text:
Wird ihr fachlicher Rat von Eltern abgelehnt oder sprechen Menschen herablassend mit ihr, spielt Seifert die Karte mit der korrekten Berufsbezeichnung dann schon aus. „Wir haben schließlich eine qualifizierte Ausbildung.“ Treffender noch als der Begriff Erzieherin sei die Bezeichnung mancher Kinder, deren Eltern aus Italien stammen. Diese nennen sie mit großer Selbstverständlichkeit eine Lehrerin. „Wir sind ja auch kein Aufbewahrungsort, sondern eine Bildungseinrichtung.“
Und genau dies hatten weder die Karikaturistin Franziska Becker noch der Herausgeber dieser Wochenzeitung auf dem Schirm.
erinnert sich noch jemand an die spöttische übertreibung der
"raum-pflegerin" als: "parkett-kosmetikerin"?
Meine Anmerkung zum Ausbildungsberuf war natürlich nicht für alle Beispiele übertragbar. Und eine hochwertige Ausbildung zum Erzieher/ Kindergärtnerin steht überhaupt nicht infrage.
Mit dem Bild von Kindern im Garten vermittelt sich zumindest bei mir ein positives Gefühl, dass noch nicht mit dem gesellschaftlichen Modell der Früherziehung im Konflikt steht, also genau das Gegenteil von Abwertung. Aber was in den Köpfen der Eltern vorgeht, dürfte mittlerweile mehr vom Smartphone geprägt sein, und weniger, darüber zu reflektieren. Da könnte die Verschiebung der Bezeichnung allerdings Sinn machen.
@denkzone "parkett-kosmetikerin": nie gehört.
"Ob eine Karikatur etwas taugt, entscheidet sich an der Frage, ob sie die Schwachen verteidigt oder sich in den Dienst der Starken stellt"
Das ist eine Sonntagsschuldefinition. Es gibt Karikaturen, die an den inneren Schweinehund appellieren. Das wäre verwerflich. Eine Karikatur wie die obige ist m. E. doof, aber vor allem, weil sie so wortreich "on message" ist.
Und der bepisste Papst? Nun ja. Auch ziemlich doof, aber ebenfalls nicht weiter schlimm, oder, Herr Augstein? Alte Menschen sind nun mal nicht immer ganz dicht.
Wer über das eine oder andere lachen kann, hat halt viel zu lachen. Glückwunsch.
>>Eine Karikatur wie die obige ist m. E. doof, aber vor allem, weil sie so wortreich "on message" ist.<<
Das sehe ich genau so. Aber wo ist die Relevanz, für die die Karikatur stehen soll? In RLP, wo mein Computer steht, gibt es keine einzige muslimische Kita. Das wird deutschlandweit nicht viel anders sein.
Die Zeit schrieb Anfang des Jahres:
>>Die einzige muslimische Kindertagesstätte in Rheinland-Pfalz muss nach einer Entscheidung des Landesjugendamtes schließen. Wie der Präsident des rheinland-pfälzischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Versorgung, Detlef Placzek, mitteilte, vertrete der Kita-Träger Inhalte der islamistischen Muslimbruderschaft und des Salafismus und stehe damit nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Das Amt entzog dem Moscheeverein Arab Nil-Rhein, der den Mainzer Al-Nur-Kindergarten trägt, die Betriebserlaubnis.<<
Falls die Karikaturistin auf eine nicht-muslimische Kita anspielt, liegt sie völlig daneben, den sowohl in christlichen wie in kommunalen Trägerschaften, werden derartige Inhalte, wie sie Frau Becker insinuiert, nicht angeboten.
Das wird deutschlandweit nicht viel anders sein.
Kommt vielleicht auch darauf an, wie eine Kita sich nennt - "interkulturell" wird laut NDR mitunter lieber verwendet als "muslimisch".
Aber im Grunde ist mir die Intention der Karikaturistin eh ziemlich wurscht. Vielleicht wollte sie ja auch die Sorgen der Eltern zielen - wer weiß das schon.
Letztlich gibt es Karikaturen, die mich zum Lachen bringen, und es gibt langweilige Karikaturen. So lange es nicht mein innerer Schweinehund ist, der lacht, ist das Grund genug für mich, eine Karikatur gut zu finden. Und auch bei Witzen muss man nicht immer überlegen, ob die jetzt gottgefällig, politisch korrekt, leninistisch sind oder ob sie "nichts taugen".
Entweder sie zünden, oder das Pulver ist nass. Im zweiten Fall: betretenes Schweigen oder höfliches Lächeln.
Da hat Jakob Augstein doppelt Recht. Solange die Nase des Sultans immer länger ist, als die von Kleinman(n) und Frau Mustermann, ist alles in Ordnung in der Kultur, mit der Freiheit an sich und jener in der Kunst.
Momentan reißen aber POTUS, Sultan und Prime minister dieser Welt und ihre Korps die bösen Witze, über die machtloser werdende Kritik und über die Subjekte ihrer Ablehnung. Dabei werden sie hauptsächlich von Kleinman(n), aber auch von Frau "Mustermann", mit erschreckend ansteigender und fanatischer Begeisterung begleitet.
Jakob Augstein hat aber irgendwie auch Unrecht.
Denn nur wenn der Alltagsrassismus, der keineswegs nur einige wenige muslimische, evangelische, evangelikale, katholische, hinduistische und konfessionslose Kindergärtnernde oder Karrikierende befällt, kulturell sichtbar wird, kann die Größe des Problems, es dürfte sich wieder einmal als hartnäckig eingebrannt erweisen und multikulturell sein, überhaupt erkannt werden.
Insofern ist die Entscheidung der New York Times falsch, weil sie als gegen den Trend erstarkendes Medium einer schwindenden öffentlichen Kritik, überhaupt Kritikwürdiges präsentieren muss. - Damit hat Augstein dann wieder völlig Recht.
Im Kindergarten/Kindergarden fängt es an: Hier und hier, und da und da, und hört mit Witzen und Satire nicht auf.
Beste Grüße
Christoph Leusch