Als die erste Frau vor zwölf Jahren ins deutsche Kanzleramt kam, wurde viel über einen neuen, besseren, weiblichen Stil der Ausübung politischer Macht geredet. Aber die Macht macht aus den besten Frauen Männer – und wie jeder Mann vor ihr klammert Angela Merkel sich jetzt an ihren Sessel. Und nun ist es zu spät: Merkel hat bei der Wahl am vergangenen Sonntag das schlechteste Ergebnis der Union seit 1949 erzielt. Sie hat den Augenblick des Abschieds in Würde verpasst.
Die Kanzlerin schleppt sich jetzt in ihre vierte Amtszeit – vermutlich rechts und links gestützt von zwei Kleinparteien, die für eine Beteiligung an der Macht ihre letzte Überzeugung verkaufen werden. Das ist kein schöner Anblick. Und für Deutschland ein Elend. Es gibt so viel zu tun. Aber der kommenden Regierung wird es an allem fehlen, was nötig wäre, um die vor ihr liegenden Aufgaben zu lösen: Kraft, Wille und Einigkeit. Das Schlimmste aber: Diese Regierung wird eine der Spaltung sein, zwischen Oben und Unten und zwischen Ost und West.
Man weiß ja, dass Wahlabende keine Momente der Wahrheit sind. So hemmungslos ist die Öffentlichkeit allerdings selten belogen worden wie von dieser Kanzlerin, die in der Elefantenrunde allen Ernstes sagte: „Ich bin nicht enttäuscht.“ Wenn Merkel von diesem Ergebnis nicht enttäuscht war – womit hatte sie dann gerechnet? Diese Wahl war tatsächlich eine Zeitenwende, wie der Chefredakteur des Spiegels, Klaus Brinkbäumer, geschrieben hat: Die Nazis im Parlament, Ost und West zutiefst gespalten – Deutschland mag in der Welt beneidet werden, aber im Inneren ist es zerrissen.
Der Mehrheit ist – so muss man das Wahlergebnis lesen – die Zerrissenheit des Landes gleichgültig, oder nicht so wichtig, jedenfalls nicht wahlentscheidend. Natürlich ist dieses Ergebnis demokratisch, was das Verfahren angeht. Zweifel sind aber angebracht, was den demokratischen Geist dieses Ergebnisses angeht. Denn Demokratie entsteht nicht durch Mehrheit. Sondern durch Berücksichtigung der Minderheit und in der Überwindung des Trennenden.
Nun wäre es ein Irrtum, zu glauben, dass die Regierung den dauernden Zuspruch des ganzen Volkes braucht.
So ist die repräsentative Demokratie nicht gedacht. Die Menschen gehen wählen. Aber einen Wählerwillen gibt es nicht. Die Parteien machen aus dem Ergebnis, was sie wollen. Darum kann das politische System ziemlich lange auf den inneren Zuspruch sehr vieler Wählerinnen und Wähler verzichten. Aber auf Dauer zahlt auch ein demokratisches System, das an zu vielen Menschen vorbeiregiert, dafür einen hohen Preis.
Wer an einer „Jamaika“-Koalition zweifelt, weil die Entfernungen der beteiligten Parteien untereinander zu groß seien, der hat den Glauben an die Integrität der handelnden Personen offenbar noch nicht aufgegeben. Wir anderen, Ernüchterten, müssen hingegen feststellen: Es gibt buchstäblich kein Thema, bei dem sich selbst CSU und Grüne am Ende nicht doch einig würden, wenn der Preis die Macht ist.
Man sollte also die Standhaftigkeit sowohl der Grünen als auch der CSU nicht überschätzen. Für die CSU steht mehr auf dem Spiel als für die Grünen – was die Macht kostet, darüber wird darum eher CSU-Chef Horst Seehofer bestimmen als Cem Özdemir. Natürlich hört man jetzt aus Bayern, dass es ohne die berüchtigte „Obergrenze“ keine Koalition geben werde. Aber am Ende ist das auch nur ein Wort und die Koalitionsvereinbarung eine Frage der Formulierung. Es ist gut vorstellbar, dass die Grünen der CSU das Wort „Heimat“ schenken und dafür im Gegenzug das Wort „Klimaschutz“ bekommen – und Merkel supervidiert den Tausch.
Wie flexibel die Grünen selbst in Menschenrechtsfragen sein können, hat sich vor drei Jahren gezeigt, als mit der Zustimmung des grünen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, das Asylrecht verschärft wurde und der westliche Balkan wider besseres Wissen zur „sicheren“ Herkunftsregion erklärt wurde. Wenn sie eines Morgens im Bündnis mit der FDP aufwachen, dann werden die Grünen ihre lange Reise aus dem Schoß des Bürgertums über einige Umwege des politischen Aufbegehrens zurück zum Ort ihres Ursprungs vollendet haben. Mutlangen, Gorleben, selbst Stuttgart 21 – all das erscheint ja schon heute wie der lang zurückliegende Mittsommernachtstraum einer fernen Jugend.
Es gibt also derzeit keinen Grund, an der äußeren Stabilität von „Jamaika“ zu zweifeln, auch wenn eine solche Regierung aus CDU, CSU, FDP und Grünen kaum so geräuschlos – ja so totenstill – funktionieren würde wie die Große Koalition. Aber die ganze Kraft, über die Merkel noch verfügt, wird in die Aufrechterhaltung dieser komplizierteren Koalition fließen. Für alles andere – Bildung, Digitalisierung, Bürgerrechte, Chancengleichheit, Steuergerechtigkeit, Europa – wird es an Lust und Laune fehlen. „Jamaika“ wird damit das Gegenteil eines politischen Projekts sein. Die Wiederauferstehung des alten Westdeutschlands von den Toten. Ruhe ist die erste Regierungspflicht.
Nach der Wahl hat die Kanzlerin gesagt: „Ich sehe nicht, was wir anders machen sollten.“ Das ist kein Versprechen. Sondern eine Drohung. Wir erleben jetzt die Kohlisierung der Angela Merkel.
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