Sonne! Ich denke ans Meer. Und ans Sterben

Hegelplatz 1 Jakob Augstein sinniert im Zuge des nahenden Sommers über das stumme Leiden im Mittelmeer
Ausgabe 14/2019
Im Sommer 2017 erinnerten Aktivisten in Spanien an die Mittelmeertoten, indem sie Fotos der Verstorbenen an den Stränden aufstellten
Im Sommer 2017 erinnerten Aktivisten in Spanien an die Mittelmeertoten, indem sie Fotos der Verstorbenen an den Stränden aufstellten

Foto: Josep Lago/AFP/Getty Images

Wir hier am Hegelpatz sind ebenso ungeduldig wie der Rest des Landes: wird der kommende Sommer mit dem vergangenen mithalten können? Sie erinnern sich: Sonne in den Augen, Sand in den Schuhen, Sex am Strand. Jeder Tag so, wie das Leben eigentlich gedacht ist. Das Meer ist eben ein Sehnsuchtsort. Das geht auch Flüchtlingen so – nur ganz anders. Die wollen nicht am Meer liegen, sondern es überqueren.

Ist man schon ein Spielverderber wenn man diese Assoziation hat? Ein Hypermoralist, dem die Zeit am Ende ein „kompromissloses Verständnis von Menschenrechten“ vorwirft? Wir erinnern uns, dass selbst eine solche Zeitung offenbar inzwischen bereit sein kann, Kompromisse bei den Menschenrechten zu machen. Die Maßstäbe sind ins Rutschen gekommen.

Migration ist keine einfache Sache. Wo sollen die Geflüchteten hin? Wer zahlt für sie? Wieviele werden noch kommen? Was können wir tun, die Wanderung zu steuern oder zu unterbinden? Welche Pflicht haben wir, die Fluchtursachen zu bekämpfen? Welche Verantwortung tragen wir? Alles wichtige Fragen – die aber vor dem Leid auf dem Meer verstummen.

Das Mittelmeer heißt auf Lateinisch mare nostrum, unser Meer. Wir sind nicht für jedes Leid der Welt zuständig. Für das Leid in unserem Meer sind wir zuständig. Wenn wir den Tod im Mittelmeer verhindern können, müssen wir ihn verhindern. Wer das für moralischen Totalitarismus hält, hat aus Auschwitz nichts gelernt.

Auschwitz? Darf das Wort in diesem Zusammenhang genannt werden? Ja, unbedingt. Auschwitz ist unsere Verpflichtung, sich jeder Politik entgegenzustellen, die Menschen als Masse behandelt und nicht als Individuen. Mirjam Zadoff – die als Direktorin des NS-Dokumentationszentrums in München keinen Zweifel an der Einzigartigkeit der deutschen Verbrechen lässt – hat gesagt: „[…] ich bin sicher, dass der Blick zurück eines lehrt: Wenn wir Flüchtlinge nicht mehr als Menschen betrachten, sondern nur mehr als Bedrohung, zahlen wir einen hohen Preis und büßen unsere Menschlichkeit ein.“

Europa hat gerade wieder ein bisschen von seiner Menschlichkeit eingebüßt. Ende März wurde die EU-Mission „Sophia“ beendet. Ihre eigentliche Aufgabe hatte darin bestanden, die Schlepperbanden einzudämmen, die den Flüchtenden den Weg über das Meer ermöglichen. Aber dabei hatte sie in den vergangenen dreieinhalb Jahren auch 49.000 Menschen das Leben gerettet.

Jetzt sind es nur noch die Schiffe privater Hilfsorganisationen, die auf dem Meer nach Ertrinkenden suchen – und die danach vor den südlichen Häfen ankern, in die fremdenfeindliche Politiker sie nicht mehr einfahren lassen wollen. Und was tut Deutschland?

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Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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