Der richtige Impfstoff gegen Covid-19 wurde zu spät und in zu geringer Menge bestellt. Diese jüngste Meldung hat sich nicht wie ein Lauffeuer verbreitet – sondern wie ein Schwelbrand. Aber jetzt ist sie angekommen. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wehrt sich noch mit Händen und Füßen gegen entsprechende Vorwürfe und die Kanzlerin hält sich – wie üblich – bedeckt. Das ist nicht verwunderlich. Beide sind verantwortlich für das deutsche Impfdebakel. Erstaunlich dagegen ist, dass viele Medien sich nur unwillig der Erkenntnis gestellt haben, dass auch Deutschland schwere Fehler im Kampf gegen das Coronavirus gemacht hat.
„Hinterher ist man immer klüger“, so begann vor ein paar Tagen ein Leitartikel in der Sü
er Süddeutschen Zeitung. Das legt nahe, dass die Kritik am deutschen Impfwesen wohlfeil sei. Man habe im Sommer, als die Europäische Union (EU) Verhandlungen mit den Herstellern führte, schlicht nicht wissen können, welcher Impfstoff am Ende das Rennen machen werde. Offen bleibt dann, woher Israel, die USA und Großbritannien ihren besonderen Draht zur Zukunft hatten: Denn diese Staaten haben sich rechtzeitig und ausreichend mit den besten Impfstoffen versorgt. Welch bittere Ironie. Zahllos sind ja die Artikel, in denen die deutsche, von Merkels „weiblicher Vernunft“ gelenkte, erfolgreiche Krisenbewältigung der erratischen Corona-Politik solcher Steinzeitmachos wie Trump, Johnson und Netanjahu gegenübergestellt wurde.Als im März 2003 die amerikanische Invasion des Irak begann, wurden die US-Truppen von mehr als 700 Journalisten begleitet. Sie hatten einen Vertrag mit der Armee abgeschlossen, in dem sie sich bestimmten Regeln der Berichterstattung unterwarfen. Der Kampf für die Demokratie und gegen den Terror schien eine Sache zu sein, bei der Journalisten keine unabhängige Position mehr einnehmen konnten. Ohne Freiheit gibt es keinen Journalismus. Also zogen bedeutende amerikanische Zeitungen wie die New York Times an der Seite der US-Armee in den Krieg gegen den Terror.Wenn heute deutsche Medien Seite an Seite mit der Regierung gegen das Coronavirus kämpfen, fühlen sie sich vermutlich noch viel mehr gerechtfertigt als die eingebetteten Kollegen vor Falludscha: Ohne Gesundheit gibt es nicht mal Demokratie. Aber wenn ein Eiferer mit der eigenen Fehlbarkeit konfrontiert wird, ist der Unmut enorm.Jene Kräfte, die eigentlich der Aufklärung gehören sollten, werden dann in die Verteidigung umgeleitet. Zum Beispiel in das zweite Argument, mit dem in den vergangenen Tagen die gescheiterte Regierungspolitik gegen Angriffe in Schutz genommen worden ist: Geld. Die Verhandler der EU hätten das berechtigte Ziel verfolgt, die Kosten der Impfstoffversorgung so niedrig wie möglich zu halten – auch auf die Gefahr von Verzögerungen in der Versorgung hin. Aber das kann nur jene Leser überzeugen, die in den vergangenen Monaten nicht nur auf Kontakte verzichtet haben, sondern auch auf Nachrichten. Denn in dieser Pandemie geht es von Anfang um alles Mögliche – aber nicht ums Geld.Man muss es wohl wirklich so klar aussprechen: Jede Verlängerung der Pandemie, jeder zusätzliche Kranke, jedes verlorene Leben wiegt umso vieles schwerer als der schäbige Gewinn von ein paar lumpigen Milliarden im Impfstoffpoker.Die jüngste Vergangenheit hat einen Siegeszug der Wissenschaft gesehen: „Unite behind science“ ist einer der Schlachtrufe der Fridays-for-Future-Bewegung. Und auch in der Corona-Krise trauen die Leute Wissenschaftlern mehr als Politikern und Journalisten. Daher die überragende Rolle des Virologen Christian Drosten, der alles vom Wirken der Viren versteht – aber wenig von den Bedürfnissen der Menschen. Gleichzeitig haben die Themen Klima und Corona zu Verschiebungen in den Redaktionen geführt. Das Gewicht der Wissenschaftsjournalisten hat zugenommen. Das ist ein Paradigmenwechsel.Die Arbeit von Wissenschaftsjournalisten besteht darin, komplizierte Sachverhalte verständlich zu erklären. Ihre Arbeit besteht nicht darin, nach Macht, Konflikt und Interesse zu fragen. Als das Impfdebakel sichtbar wurde, folgten die Kollegen in den Wissenschaftsredaktionen ihrem Impuls und „erklärten“ auch diese Vorgänge. Über solche Expertenbegleitung freut sich jede Regierung.Die Stimmung im Land spitzt sich zu. Bilder von Polizisten, die Corona-Regeln durchsetzen und dabei kleine Kinder am Rodelhang abfangen, wirken inzwischen ebenso verstörend wie die dauernde Sorge vor dem Virus. Nun hat die Notstandsregierung – so muss man das weder in der Verfassung noch im Gesetz vorgesehene Miteinander von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten wohl nennen – den bisher weitreichendsten Eingriff in die Freiheit der Menschen beschlossen: Übersteigt die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen in einem Landkreis den Wert von 200, darf sich dort niemand weiter als 15 Kilometer von seinem Wohnort entfernen.Wenn unter solchen Umständen der Verdacht zur Gewissheit wird, dass die Exekutive aus Schlampigkeit die Immunisierung der Bevölkerung unnötig verzögert hat, dann könnte die Ära Merkel ganz anders enden, als die Kanzlerin und ihre Wegbegleiter in den Redaktionen sich das vorgestellt haben.