Den einen gilt er als „Deutschlands nervigster Fahrradfahrer“ (Die Welt), anderen als „Deutschlands erfolgreichster Radaktivist“ (taz). Wie sieht Heinrich Strößenreuther sich selbst? Darüber, über den Konflikt auf den Straßen von Berlin und über seine Petzer-App sprach er im „radioeins & Freitag Salon“.
der Freitag: Herr Strößenreuther, würden Sie sich als Radaktivist bezeichnen?
Heinrich Strößenreuther: Eigentlich bin ich eher ein Klimaaktivist. Um die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad erreichen zu können, müssen wir Autofahrer und Autofahrerinnen aufs Fahrrad locken. Und dafür braucht es vor allem attraktive Radwege.
Wir reden ja jetzt hauptsächlich über Städte, Ballungsräume. Das, was dort an Autoverkehr zusammenkommt, ist das schon so relevant fürs Klima?
Die Hälfte aller Autofahrten ist kürzer als fünf Kilometer. Bis auf die Autofahrten, in denen man 15 Bierkisten oder 15 Kinder dabei hat, kann man die alle aufs Fahrrad locken. Sie müssen sich entscheiden: Ich fahre jetzt mit dem Fahrrad, weil es für mich besser ist. Dazu gehört auch, das unversehrt tun zu können, also keine Angst haben zu müssen. Das geht nur mit sogenannten geschützten Radwegen. Auf Weihnachtsmärkten gibt es Betonbarrieren, von denen man glaubt, dass sie LKWs abhalten können. Diese Art von Fahrradspur bräuchten wir.
In der Stadt habe ich immer das Gefühl, Radfahrer nehmen keine Rücksicht auf Fußgänger, Autofahrer nehmen keine Rücksicht auf Fahrradfahrer und Fußgänger, und Fußgänger nehmen manchmal keine Rücksicht. Warum sind die Leute im Alltag so schlecht darin, sich in den jeweils anderen hineinzuversetzen, dessen Rolle sie ja kennen?
Ich glaube, es liegt daran, dass wir alle genervt und gestresst sind. Egal, ob wir als Fußgänger unterwegs sind, als ÖPNV-Fahrgast, als Autofahrer oder als Radfahrer. Die Städte werden zu voll. Wir haben in deutschen Städten ein Wachstum von einem Prozent bei der Zulassungszahl an Fahrzeugen. In Berlin sind das 20.000 Fahrzeuge pro Jahr, die mehr auf unserem Straßenraum drängen. Die wollen natürlich fahren – und parken. Gleichzeitig fahren die Autos weniger. Am Alexanderplatz werden regelmäßig Straßenzählungen durchgeführt. In den vergangenen 20 Jahren hat sich dort die Menge der Autos halbiert. Das ist ein schräges Phänomen. Zugleich gibt es mehr Radfahrer. In Berlin haben wir in den vergangenen Jahren ein Wachstum von zehn bis 20 Prozent des Radverkehrs erlebt, und die Radfahrer beanspruchen natürlich ihren Platz.
Warum greift die Politik hier nicht ein?
Die traut sich nicht, den Autofahrern die Fläche wegzunehmen, um daraus sichere Radwege zu machen. Oder den Fußgängern einmal eine Ampel so zu schalten wie an der Bismarckstraße, vier Spuren auf der einen, vier Spuren auf der anderen Seite, Parkplätze in der Mitte. Da sollten auch gebrechlichere Menschen auf die andere Seite kommen, ohne sich wie ein vor fünf Füchsen davonhoppelnder Hase auf der Wiese zu fühlen. Oder der Straßenbahnfahrgast: Der wartet an der Haltestelle auf seine Tram, und wenn der Wagen ankommt; dann parkt direkt auf der Tramspur ein Auto. Alle Fahrgäste müssen raus, und es dauert eine Dreiviertelstunde, bis das Auto abgeschleppt ist. Währenddessen kommen im Zehnminutentakt weitere Straßenbahnen, und alle sind sauer. Solche Konflikte werden politisch nicht ausgetragen. Eigentlich sind wir alle Opfer einer politischen Feigheit.
Lassen Sie uns doch mal ganz konkret über das Fahrradfahren in der Stadt reden. Fangen wir mit dem Wetter an.
Sie sind Hamburger, richtig?
Ja. Aber ...
Dort habe ich auch mal gelebt.

Illustration: Susann Massute für der Freitag
Aber ich habe in dieser Hinsicht in Berlin keinen Fortschritt erlebt, denn wir haben hier ungefähr von November bis März Winter, und an neun bis zehn Tagen im Monat regnet es. Wie antworten Sie den Leuten, die sagen: „Unter diesen Umständen habe ich keine Lust, mit dem Rad zu fahren. Ich muss ins Büro, da kann ich mir nicht die Hose mit Matsch besudeln lassen“?
Es gibt zwei oder drei Leute in Deutschland, die sogenannte Wettertagebücher geführt haben.
Ich liebe Radfahrer, die sind immer so genau.
Diese Leute haben jedenfalls festgestellt, schlechtes Wetter sei immer dann, wenn man nach fünf bis zehn Minuten Fahrzeit völlig durchnässte Hosenbeine habe. Wenn die nach etwa 15 Minuten ein bisschen angenässt seien, aber dann nach zwei Minuten im Büro wieder trocken, dann könne man noch mit dem Rad fahren. 95 Prozent aller Tage sind demnach fahrbar. Ich habe mich einmal mit den Berliner Verkehrsbetrieben darüber unterhalten. Die sagen ganz klar: gutes Wetter, wenig Fahrgäste – schlechtes Wetter, viele Fahrgäste. Dabei macht es bei schlechtem Wetter eigentlich gar keinen Spaß, Bus zu fahren, weil er dann überfüllt ist. Ich würde jedem empfehlen, gerade im Winter, auch bei schlechtem Wetter lieber mit dem Rad zu fahren, weil man sich dann von den Viren und Bakterien in der U-Bahn fernhält.
Einen anderen Punkt zum Radfahren in der Stadt haben Sie zu Beginn schon angesprochen: Angst. Sie meinen die Angst des Radfahrers, und ich würde hinzufügen: die Angst vor Radfahrern.
Fußgänger haben Angst vor Radfahrern, die wiederum oft auf den Gehweg flüchten, weil sie sich nicht mehr auf die Straße trauen. Das heißt, der Stärkere verdrängt den Schwächeren, und der Schwächere geht auf das Gebiet des noch Schwächeren. Wenn ich aber gute Radwege auf der Straße habe, dann stören die Fahrradfahrer die Fußgänger nicht mehr. Radfahrer sehen natürlich auch, dass überall Autos in zweiter Reihe parken, und da denkt man sich als Radfahrer: „Die Polizei fährt dran vorbei. Warum sollen für mich noch die Regeln gelten?“ Sie werden dann hin und wieder sehr eigenwillig ausgelegt, wenn es etwa um rote Ampeln geht. Das gewöhnen sich Radfahrer leider an, und sie übersehen dann manchmal, dass eine Fußgängerampel auf Grün steht. Das ist leider ein schlechtes Verhalten, von dem wir wegkommen müssen.
Zur Person
Heinrich Strößenreuther ist Wirtschaftsinformatiker und Geschäftsführer der „Agentur für clevere Städte“. Seit 2009 lebt er in Berlin, 2015 gründete er die Initiative „Volksentscheid Fahrrad“. Deren Ziel: mehr Sicherheit für Radfahrer in der Stadt
Sie haben 2015 in Berlin den „Volksentscheid Fahrrad“ initiiert. Was hat es damit auf sich?
Wir haben damals zehn Ziele aufgestellt und dann einen Gesetzesentwurf geschrieben. Für die sogenannte erste Stufe, den Antrag auf Volksbegehren, mussten wir 20.000 Unterschriften in sechs Monaten sammeln. Wir haben in drei Wochen 100.000 gesammelt: Das war dann wie ein politischer Tsunami für den Senat und für die gesamte Politik. Die haben gemerkt, dass die bisherige Verkehrspolitik am Ende ist. Daraus entstand das Berliner Mobilitätsgesetz.
Mit welcher Partei kamen Sie in dem ganzen Prozess besonders gut zurecht?
Mit der AfD haben wir nicht gesprochen, und im Wahlkampf waren CDU, SPD, FDP, Grüne und Linke für das Fahrrad. Alle wollten plötzlich Radwege bauen. Das war schon fast Anbiederei. Es gab nur kleine Unterschiede. Ende 2016 kam Rot-Rot-Grün in Berlin an die Macht. Bei den Linken war klar, dass sie ohne Wenn und Aber hinter dem Volksentscheid stehen, bei den Grünen auch. Bei der SPD gab es weiter oben Widerstand, beim Regierenden Bürgermeister und den Altvorderen.
Wie kamen Sie mit der Verkehrssenatorin Regine Günther klar, die von den Grünen bestellt wurde, aber keine Grüne ist?
Wenn man einen Volksentscheid hat, der die Verkehrspolitik durcheinanderwirbelt, dann erwartet man eigentlich, dass eine neue Verkehrssenatorin anruft und ein Treffen vorschlägt. Erst nach langem Bitten und Betteln unsererseits kam es zustande. Statt der anberaumten zwei Stunden dauerte es nur eine Stunde. Die Frage, ob sie zu allen zehn Zielen stehe, beantwortete sie nicht. Da waren wir ziemlich bedient. Und es wurde nicht viel besser. Der Senat hat in zwei Jahren gerade einmal einen einzigen gesetzeskonformen Radweg zustande gebracht.
Ich habe gelesen, dass Sie vor einiger Zeit eine App entwickelt haben, die „Wegeheld-App“. Können Sie erklären, was das ist?
Es geht darum, den Flächenkonflikt auszutragen. Am offensichtlichsten ist er dort, wo die einen auf den Flächen der anderen stehen: Falschparker. Es geht nicht um eine abgelaufene Parkuhr, sondern um ein Auto oder einen Lieferwagen, der auf dem Radweg steht, auf dem Behindertenparkplatz, oder eine Bushaltestelle zuparkt. Dagegen habe ich die „Wegeheld-App“ online gestellt. Da kann man ein Foto machen, auf dem Bildschirm das Nummernschild schwärzen und das Bild entweder auf den Internetpranger wegeheld.org oder den Twitter-Account @DasMussWeg hochladen.
Also ist das so eine Denunziations-App.
Bei diesem Wort muss ich protestieren. Sie können gerne Petzer-App sagen, da habe ich kein Problem damit. Aber dieses Wort kennen wir aus totalitären Zeiten.
Mir fallen aber leider immer nur Worte ein aus solchen Zusammenhängen. Blockwart wäre noch ein Beispiel gewesen.
Die Regeln sind bei der Straßenverkehrsordnung gar nicht so schlecht, aber dann gibt es ja auch noch die Bußgeldkatalogverordnung BKatV. Da stehen Bußgelder drin, die nicht einmal inflationsbereinigt sind. Es ist Jahr für Jahr billiger geworden, sich daneben zu benehmen. Eigentlich müsste man an jede Zahl, die dort drinsteht, hinten eine Null anhängen, und dann passt es wieder.
Da könnten manche sagen: „Gut, das zahle ich, und dann habe ich meinen Parkplatz auf diese Weise gekauft.“ Das finde ich unter sozialen Gesichtspunkten schwierig.
Die Reichen sind manchmal viel geiziger, sie reagieren auf eine Strafe von 100 Euro in jedem Fall. Wenn der Bußgeldkatalog nicht mehr funktioniert, dann sind wir als Bürger gefragt. Es ist nicht cool, solche Apps nutzen zu müssen. Aber es ist eine Notwehr-App.Wenn die Legislative im Bußgeldkatalog einfach die Null vergessen hat, und alle denken: „Wenn ich ein oder zwei Mal im Jahr erwischt werde, und es 15 Euro kostet, sind das an Arbeitstagen zwischen zehn und 20 Cent, also wesentlich billiger als eine Busfahrkarte“, dann führt das zu falschem Verhalten. Und ich bin es einfach leid, dass mir der Radweg von einem Auto zugeparkt wird und ich deshalb gezwungen bin, gefährlich drum herum zu fahren.
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