Zu welchem Zweck betreiben wir Journalismus?

Abweichungen Schreibt man für die eigene Gemeinde als publizistischer Prediger? Oder will man die Anderen erreichen und überzeugen? Beides gleichzeitig wird schwierig.

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Dieser Blog ist die Fortsetzung eines Gesprächs, das hier seinen Ursprung fand.

Für mich ist das ein ganz wichtiges Thema. Man könnte darüber einen große Aufsatz schreiben: Wesen und Rolle des dissidenten Journalismus. Was ist die Aufgabe der abweichenden Meinung, der abweichenden Analyse? Für wen mache ich das? Wen will ich erreichen?


Es gibt die Leser, die meiner Meinung sind. Und die anderen, die es noch zu überzeugen gilt. Für die einen hat die dissidente Meinung die Funkion der Selbst-Bestätigung: wir sind nicht allein. Oder auch: wir gehören zur Minderheit der Erleuchteten. Die anderen wollen vielleicht wissen, wie die "andere" Seite denkt, oder sie sind unentschlossen und suchen nach Orientierung ...

Es leuchtet ein: diese beiden Gruppen verlangen einen unterschiedlichen Ton, man muss sich ihnen in unterschiedlichem Gewand nähern. Mir ist das neulich wieder deutlich geworden als Albrecht Müller von den Nachdenkseiten mich so unfreundlich wegen meiner Euro- und Merkel-Berichterstattung angegangen ist. Da ging es ja um mehr als um persönliche Befindlichkeit. Es ging um eine unterschiedliche Auffassung der publizistischen Aufgabe.


Die Nachdenkseiten, die ich gerne und oft lese, sind ein gutes Beispiel für eine Art von Publizismus, die ich selber nicht machen möchte. Hier geht es darum, vor der eigenen Gemeinde zu predigen. Es geht nicht mehr darum, mit Argumenten zu überzeugen, sondern darum bereits Vereinbartes jeweils neu zu bestätigen. Und es geht darum, Recht zu haben und zu behalten.

Kaum vorstellbar ist, dass ein Publizist wie Müller beispielsweise schreibt: Ich war der Ansicht, dass Gauck kein guter Präsident ist, jetzt muss ich diese Ansicht revidieren.

Eine solche Fähigkeit zur Selbstkritik passt nicht zur Form der publizistischen Predigt.

Bitte keine Missverständniss: Das ist legitim und erfüllt einen wichtigen Zweck. Ich schätze solche Autoren auch sehr, weil man sich auf sie verlassen kann. Es gibt etwa bei der FAZ solche Kollegen, deren Texte - konservativer Art - mir sehr wichtig sind.

Es ist vielleicht eine Charakterfrage: meine Sache ist das dennoch nicht. Meine journalistische Sozialisation ist anders verlaufen. Ich bin Reporter. Ich bin immer im Zwiespalt, ob ich die Dinge beschreiben soll, wie ich sie sehe - oder wie ich sie gerne hätte.

Zu meinem Journalismus gehört das Zweifeln, das Fragen, das Suchen, die Kritik - auch die an der eigenen Überzeugung. Für mich ist das eine Frage des Handwerks. Des Ethos. Aber nicht nur. Es ist nicht nur Selbstzweck. Es geht - wie gesagt - um die Frage, was das alles soll. Ich denke, Kritik soll Wirkung haben wollen. Was ist Kritik ohne den Anspruch auf Wirkung?

Bleiben wir bei der Euro-Krise. Ich bin sehr unglücklich über Berichterstattung und Kommentierung zu dem Thema. Gerade auch von linker Seite.

"Wir" sind zwar der Ansicht, dass wir das Problem verstanden haben (keine Schuldenkrise - sondern Krise des Finanzsystems) und die richtige Lösung kennen (staatliche Kontrolle / Verstaatlichung des Bankensektors; Änderung der politischen Koordinaten und dann EU-gemeinschaftliche Koordinierung von Wirtschafts- und Steuerpolitik) - aber man ignoriert einigermaßen, dass die Bundesregierung, die meisten Medien und der Großteil der Bevölkerung (inklusive 41% der Linkswähler, nach einer Forsa-Umfrage) das alles ganz, ganz anders sehen.

Dadurch wird die Kluft zwischen linker Analyse und beobachteter Wirklichkeit immer größer. Das ist ein Problem, damit müssen wir uns befassen. Das bedeutet, der linke Publizist schreibt munter vor sich hin, freut sich, dass er "Recht" hat, seine Leser freuen sich mit ihm – und das war's dann auch schon. Er hat sich mit seinen Texten so weit von der Mehrheitsgesellschaft, ihrer Debatte, ihrer Selbstfindung, ihrer Selbstkritik und ihrer Entscheidungsfindung entfernt, dass er schlicht keine Rolle spielt.

Ist das genug?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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