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Nach Vaters Tod habe ich nur wenige seiner Sachen an mich genommen, ein paar Schallplatten, Bücher und den alten Autoatlas aus dem Jahre 1963, an dem sich die Eltern bis in die 90er Jahre hinein orientiert haben, obgleich er da schon längst nicht mehr aktuell gewesen, insbesondere was unsere Gegend, den Großraum um Leipzig betraf. Und noch heute steckt der Geruch von Tabak und Zigarettenrauch in den Seiten ...

Der Atlas begleitete Vater bei seinen Dienstfahrten, die er zumeist mit der MZ absolvierte, die er sich Anfang der 60er zugelegt hatte. Vater war als Behördenangestellter (so lautete die offizielle Bezeichnung) im Strafvollzug tätig, in erzieherischer Funktion, seinen Dienst verrichtete er in der Strafvollzugsanstalt Regis-Breitingen. Zu dieser Zeit lebten wir noch am Stadtrand von Leipzig, so daß er einen Arbeitsweg von etwa 35 km pro Strecke zu bewältigen hatte.

Auch wir Kinder schlugen im Atlas nach, wenn wir eine Fahrradtour planten, z.B. zu den Verwandten, die in Aue lebten, oder einen Sonntagstrip nach Merseburg. Was mir dabei nie aufgefallen war: daß die ausgewiesenen Braunkohlentagebaue zwischen Borna und Meuselwitz mit eingezeichneten Nummerierungen versehen sind, in Vaters Handschrift, und ich heute nur mutmaßen kann, daß diese die verschiedenen Einsatzorte für die Häftlinge vorstellen, die in den Revieren arbeiten mußten.

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Ich sollte diese Nummern erst neulich entdecken, und sie erinnern mich an eine Zeit, in der Vater oft tagelang nicht nach Hause gekommen, oder erst spätabends, wenn wir schon zu Bett gegangen und nur das Flurlicht Zeichen von seiner Ankunft gab. Sie erinnern mich an die Abende mit Mutter an der Nähmaschine, in der Küche, im Dunkeln, wenn allein die kleine Lampe brannte, die direkt an der Maschine befestigt, wiewohl es noch keine elektrische. Gelegentlich saßen wir auch ohne Licht, weil die Stromversorgung wieder einmal unterbrochen war ...

Die Nummern erinnern mich zudem an das Geschick eines älteren Freundes aus M., der Anfang 1982 aufgrund dubioser Anwürfe, unter anderem wegen asozialen Verhaltens, in den Strafvollzug geraten war (in der Ausfertigung des Urteils wird er als beschäftigungslos bezeichnet) - er hat seine einjährige Haftstrafe vermutlich in einem der Braunkohlenreviere rund um Borna abgeleistet, wie Viele vor ihm, vielleicht gar unter Vaters erzieherischer Anleitung. Einer Berufsausbildung bedurfte er jedoch nicht, die hatte er schon längst absolviert (Chemiefacharbeiter mit Abitur) und etliche Jahre als Laborant in einer Maschinenfabrik gearbeitet, bis er sich Stück für Stück aus dem geregelten Alltag herauszunehmen begann.

Seinen Lebensunterhalt bestritt er nun mit Pilz- und Beerensammeln, dem Bergen des Fallobstes von Straßenbäumen ... Auf Anfrage reparierte er Leuten den Fernseher oder installierte ihnen eine Antenne, spaltete für sie Brennholz, kellerte Kohlen ein. Hauptsächlich beschäftigte er sich mit Philosophie und übersetzte für sich und uns anspruchsvolle Texte aus dem Englischen ... 1983, mit Ende der Haft wurde er auch aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen, durfte nur kurz nachhause. Ich begleitete ihn dann noch ein Stück des Weges zum Leipziger Hauptbahnhof, bis zum Gewandhaus, wo ich meine Schicht anzutreten hatte. Die Postkarten, die er mir aus dem Westen sandte, endeten immer mit der Grußformel follow me.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

jayne

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