Aus dem Jenseits zurück: Wie ich den Fall der Mauer erlebte

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Für mich sollte sie einen Monat eher fallen - Als ich am späten Abend des 9. Oktober 1989 von der Demonstration um den Leipziger Ring heimkehrte, fand ich im Postkasten ein Telegramm von der Paßstelle der DDR, über das mir mitgeteilt wurde, ich könnte in Berlin den Monate zuvor beantragten Reisepaß abholen. Mein Verlag hatte mich zur Frankfurter Buchmesse eingeladen, schon im Frühjahr, mehrfach hatte ich seitdem beim zuständigen Leiter im Kulturministerium, "Buchminister" Höpcke, nachgefragt, wie es denn stehe, um die Papiere. Und dann drohte alles, wie bereits im Jahr zuvor, den unergründlichen Tiefen des Sommerlochs zum Opfer zu fallen, man wußte nicht, wo mein Antrag abgeblieben ...

Womit ich mir bis in den Herbst hinein meine Zeit vertrieben - einem befreundeten Ehepaar half ich die neubezogene Altbauwohnung im Waldstraßenviertel auszumalen, da gab es viel Stuck, an der Decke, und angesichts der Nachrichten, die wir ab und an hörten, neben der Musik, die unsere Kunstmalerei untermalen sollte, kam uns unser Unterfangen reichlich unzeitgemäß vor. Wir arbeiteten fürs Bleiben, während andere in einer Weise das Land verließen, als handelte es sich dabei um ein Bürgerkriegsgebiet. Einen anderen Freund hatte ich im Frühsommer bei der Auflösung des Haushalts unterstützt, seinem Antrag auf Ausreise war stattgegeben worden, nach einem Jahr intensiven resp. aktiven Wartens. Ja, wir hörten die Nachrichten, Ost wie West, all die Sprüche - die einen verkündeten, daß die Besten gingen, die anderen behaupteten, nur das Pack. Und wir mit unserer Wahrheit irgendwie dazwischen - nein, wir waren nicht die Idioten, die bei der Stange hielten, bis zuletzt.

Anfang der 80er Jahre hatte ich mich, in einer persönlichen Krise, mit dem Gedanken getragen, einen Antrag zu stellen, wie andere aus unserem Kreis. Allein dieser Begriff genügte schon, um sich verständlich zu machen oder zu wissen, worum es ging ... Was ich mir aber nicht mehr vorstellen konnte: unendliche Bittgänge unternehmen zu müssen, damit man mich gehen ließe, oder in geduckter Haltung durch ein Drahtverhau - das schien mir einfach nicht die angemessene Haltung. Die ersehnte Freizügigkeit wollte ich hier, in dieser Republik. Mich schmerzten die Bilder von den Botschaftsbesetzungen und von der ungarisch-österreichischen Grenze, und ich vermochte mir nicht vorzustellen, daß ich mit denen, die ich vor der Kamera in Jubel ausbrechen sah, je befreundet sein könnte. Sicherlich erzeugten sie mit ihrem medial begleiteten Exodus einen ungeheuren Druck, aber viel näher waren mir jene, die riefen: Wir bleiben hier!

Als ich 14 Tage später von meiner ersten Auslandsreise gen Westen, die ich am 10. Oktober angetreten hatte, zurückkehrte, war es die Heimkehr in ein anderes Land, obgleich es noch kenntlich, an der Sprache, den Leuten, beweglichem wie unbeweglichem Inventar. Vor Erreichen des Grenzbahnhofs Gerstungen in Thüringen schaltete ich das Taschenradio ein, das ich mir von einem der Lesehonorare gekauft hatte und hörte das erste Mal wieder Nachrichten von "Stimme der DDR", und was ich da vernehmen konnte, war völlig ungewohnt: man sprach von der Einsetzung von Untersuchungskommissionen, die mit der Aufgabe betraut würden, die Ereignisse um den siebten Oktober aufzuarbeiten, insbesondere bezüglich des harten Vorgehens der Sicherheitskräfte in Berlin ... Ich hatte Tränen in den Augen, als der Zug in Gerstungen zum Stehen kam, und die DDR-Zollbeamten liefen durch die Waggons, grüßten, machten kaum Kontrollen ...

Im Tagebuch vermerkte ich am Tage der Heimkehr lediglich: "Gestern aus dem Jenseits zurück."

Jayne-Ann Igel

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Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

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