Die andere Friedliche Revolution

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Vor wenigen Tagen sah ich Patricio Guzmans einfühlsamen Film über Salvador Allende, den er 2006 fertiggestellt hatte. Darin kommen Zeitzeugen, Wegbegleiter Allendes und auch Nachgeborene zu Wort, und geboten wird dokumentarisches Material, das vordem noch nicht publiziert worden ist. Guzman selbst mußte nach Pinochets Putsch am 11. September 1973 emigrieren, um seine Haut zu retten.

Der Film erinnerte mich an die eigenen Vorstellungen und Hoffnungen, die ich mit der Unidad Popular und dem Namen Allendes verband, seinem Wahlsieg im November 1970 und dem langen Warten, bis er endlich vereidigt wurde, als neuer Präsident der Republik Chile ...

Es waren Jahre, in denen meine Aufmerksamkeit vor allem von Entwicklungen und revolutionären Situationen in anderen Ländern gefesselt wurde, nur nicht von Vorgängen in dem Land, in dem ich lebte und das einen Kult pflegte, den man als permanente Revolution verstanden wissen wollte, auch wenn das nicht so genannt werden sollte und auch keine war.

Ich blickte nach Frankreich, wo Sozialistische und Kommunistische Partei 1970 im Begriff waren, ein Wahlbündnis zu schließen, um die bürgerliche Regierung abzulösen, und ich blickte auf Chile, wo sich ein Wahlsieg der Unidad Popular abzeichnete. Mich faszinierte Allendes Programm vom friedlichen und demokratischen Übergang in eine sozialistische Gesellschaft, das nichts anderes vorstellte als jenen Dritten Weg, der immer wieder verworfen worden war. In Chile schien das Konzept aufzugehen ...

Die neue Regierung verstaatlichte Kupferminen und andere große Unternehmen, um deren Gewinne zu vergesellschaften und zur Bekämpfung der Armut einzusetzen. Es gab eine Landreform, um den verarmten Landarbeitern und ihren Familien eine Existenzgrundlage zu schaffen, jahrzehntelang hatte man dafür gekämpft. Breite Bevölkerungsschichten beteiligten sich am Transformationsprozeß, initiierten ihn zum Teil selbst, bildeten vor Ort Räte.

Doch anders als im heutigen Brasilien, wo z.B. die selbstorganisierten Strukturen in den Stadtteilen der großen Städte die Bedingung und auch ein wichtiges Korrektiv für die Politik der Lula-Regierung darstellen, drohte in Chile die Einheit zu zerfallen, weil Allende diesen Faktor der Selbstorganisation nicht recht einzuschätzen vermochte und von parallelen Strukturen sprach.

Zur Leipziger Frühjahrsmesse 1972 besuchte ich den Messestand von Chile in jenem Pavillon, in dem traditionell die jungen Nationalstaaten ausstellten, vorrangig Naturprodukte, bewunderte die Hochglanzprospekte, auf deren Seiten Stätten der Kupfergewinnung abgebildet waren, darunter auch ein Tagebau, kupferfarben - Tagebaue waren mir vertraut, sie bildeten die Topographie der eigenen Kindheitslandschaften, und es war noch nicht die Zeit, um Fragen nach der ökologischen Verträglichkeit zu stellen ...

Indes sollte meine Wahrnehmung der lateinamerikanischen Realitäten über die Liedkultur dieses Kontinents eine herausragende Rolle spielen. Violetta und Isabel Para, Mercedes Sosa, Victor Jara, Quilapayun ... Irgendwann bastelte ich mir einen Sticker mit der chilenischen Fahne und begann Lieder nachzusingen, von Victor Jara beispielsweise La Plegaria a un Labrador (Gebet an einen Landarbeiter), dessen Poesie mich faszinierte. Chile verkörperte für mich all das, was ich zuhause vermißte ... Noch heute besitze ich eine Schallplatte vom 1. Internationalen Festival des Populären Liedes, das im Frühjahr 1973 in Chile stattfand, produziert in Santiago de Chile.






Der Putsch vom 11. September, über den ich wohl erst am frühen Morgen des 12. erfahren sollte, aus dem Radio, den Vier-Uhr-Nachrichten - so sehr sich Unheilvolles auch angekündigt, über das Frühjahr, den Sommer - nun also die lange Liste der Toten, der Emigrierten, und Nerudas letztes Gedicht, über die Satrapen, die Statthalter, die in Chile die Macht ergriffen - das Wort Satrap vernahm ich da zum ersten Mal ... Doch in unserem Land, in dem seitens Partei- und Staatsführung über die Medien permanent Solidaritätskampagnen geführt wurden, ganz gleich, ob es um Kuba, Griechenland, Vietnam, Chile oder Angela Davis ging, wollte kaum noch jemand etwas davon hören.

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Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

jayne

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