Die behauptete Weltoffenheit Dresdens - eine Verzerrung der Realität

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Gestern gedachten in Dresden mehr als zweihundert Personen des Mordes an der ägyptischen Pharmazeutin Marwa El-Sherbini, die vor einem Jahr im Verhandlungssaal des Landgerichts Dresden mit Messerstichen getötet wurde, kurz nachdem sie als Zeugin in einem Berufungsprozeß ausgesagt hatte. Verhandlungsgegenstand dieses Prozesses war ein rassistisch motivierter Übergriff des Angeklagten auf Marwa El-Sherbini gewesen. Die Mordtat war zunächst als persönliches Drama heruntergespielt worden, trotz Wissens um den rassistischen Hintergrund, was international für Empörung gesorgt hatte.

Nachdem am Vormittag im Landgericht von Justizminister Jürgen Martens eine Gedenktafel zu Ehren des Mordopfers enthüllt worden war, versammelten sich am späten Nachmittag noch einmal Hunderte auf dem Platz vor der Goldenen Pforte des Rathauses zu einer Kundgebung, zu der der Ausländerrat Dresden eingeladen hatte.
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Dies wäre der Ort gewesen, seitens Stadt- und Staatsregierung einmal ehrlich Bilanz zu ziehen, was sich seither getan hat, um die Lebensbedingungen für Migrantinnen und Migranten in dieser Stadt und darüberhinaus spürbar zu verbessern, sie vor rassistischen und fremdenfeindlichen Übergriffen zu schützen als auch strukturelle Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Doch vom Justizminister und von der Oberbürgermeisterin waren mehr oder weniger nur Allgemeinplätze zu hören.

Helma Orosz verwies auf eine Reihe von Initiativen, die angestoßen worden wären, wie z.B. den Aufbau eines Kultur- und Bildungszentrums, das einmal Marwa El-Sherbinis Namen tragen soll, was jedoch nicht Orosz' Verdienst ist. Und dann erinnerte sie an die Menschenkette vom 13. Februar, die gezeigt habe, daß der Dresdner Zivilgesellschaft sehr wohl nicht an Problembewußtsein mangele und sie das auch in breiten Bündnissen zum Ausdruck zu bringen vermag. Sie vertraue auch in dieser Frage auf das zivilgesellschaftliche Engagement.
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Jürgen Martens charakterisierte die Tat als Anschlag auf die gesamte Gesellschaft und ging im Weiteren auf die gesetzlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen ein, die die Integration der Migrantinnen und Migranten in die Gesellschaft beförderten. Neben ehrlicher Betroffenheit also eher salbungsvolle Worte. Wollte man diesen Glauben schenken, so müßte man annehmen, daß prinzipiell alles in Ordnung sei. Doch was hat sich tatsächlich verändert? Augenscheinlich wurde in Konsequenz des Mordanschlages lediglich der Sicherheitsstandard am Landgericht erhöht, so wird jetzt z.B. jeder Besucher einer genauen Kontrolle auf Waffen unterzogen.
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Ayman Mayzek vom Zentralrat der Muslime kam auf wesentlichere Punkte zu sprechen, er mahnte an, in der deutschen Gesellschaft sei noch immer nicht das Bewußtsein ausgebildet, daß auch die Migrantinnen und Migranten jeglicher Kultur und Glaubensrichtung dazu gehörten, sie Bestandteil dieser Gesellschaft sind. Ohne dieses Bewußtsein wäre nur schwerlich etwas gegen den Alltagsrassismus auszurichten. Was er voriges Jahr vermißt habe, sei eine Botschaft seitens der Politik, daß die Muslime in dieses Land gehörten und man den Kampf gegen Rassismus als gemeinsames Anliegen begreift.
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Seitens der InitiatorInnen der Veranstaltung fiel die Bilanz weitaus negativer aus. So erinnerte Nabil Yacoub vom Ausländerrat in Dresden in diesem Zusammenhang an die Angehörigen der Ermordeten, da müßte endlich ein Zeichen gesetzt und in geeigneter Weise Unterstützung gegeben werden. Und dies beträfe im Übrigen auch die Angehörigen des 1991 in Dresden ermordeten Mozambiquaners Jorge Gomondai, nach dem ein Platz in der Dresdner Neustadt benannt wurde - nach 16 Jahren.
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Marianne Thum schließlich, ebenfalls Mitinitiatorin dieser Kundgebung und Leiterin der Opferberatung Dresden, stellte klar: „Die behauptete Weltoffenheit Dresdens ist bis heute eine Verzerrung der Realität.“ Eine kritische Reflektion über Alltagsrassismus und Ausgrenzung habe kaum stattgefunden. Rassismus sei weit verbreitet. Sie führte als Beispiel das Geschick ihrer mit einem Mozambiquaner verheirateten Freundin an - ihre Kinder seien auf dem Schulweg fast tagtäglich Anpöbeleien ausgesetzt gewesen, weshalb sie die Stadt schließlich verlassen habe. MigrantInnen wollten auch nicht um Toleranz bitten, sondern als selbstverständlich wahrgenommen werden.
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Marianne Thum verwies auch auf das Konzept zur Integration von Migrantinnen und Migranten in Dresden, dort heiße es u.a., daß gute Deutschkenntnisse der Schlüssel zur Integration seien, was sicher richtig ist, doch nicht vor rassistischen Angriffen und behördlicher Diskriminierung schütze. Und daran habe sich auch nach dem 1. Juli 2009 nichts geändert. Man spreche von Toleranz, also Duldung, wo es uns um die Akzeptanz anders Lebender, Glaubender, Aussehender gehen müßte.

Hinsichtlich struktureller Ungerechtigkeiten wären indes weitere Punkte zu nennen, z.B. die Residenzpflicht vor Ort für Asylbewerber, das Verbot, in der Verfahrensphase, die oft sehr lang, eine Arbeit aufzunehmen - nach Artikel 1 des Grundgesetzes, den auch Martens in seiner Rede zitierte, sind schon allein diese Einschränkungen verfassungswidrig. Zudem war schon in der ersten Hälfte der 90er Jahre, begleitet von einer z.T. unerträglichen Rhetorik, das Asylrecht verschärft worden.

Interessant vor diesem Hintergrund ist eine Pressemitteilung, nach der MigrantInnen die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft massiv erschwert wurde, was jetzt deutlich Wirkung zeige. Die Hürden für die Einbürgerungsverfahren wurden erhöht, währenddessen eine Senkung der Einbürgerungsgebühren auf einen symbolischen Betrag, die Abschaffung der Einbürgerungstests und Einbürgerungen unabhängig vom Einkommen nach fünf Jahren vonnöten wären. Heute findet im Übrigen zu dieser Frage eine Debatte im Bundestag statt.

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Im Anschluß an die Kundgebung formierten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einem Demonstrationszug, um am Landgericht noch einmal still Marwa El-Sherbinis zu gedenken ...

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Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

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