Enthüllungen vor Ort - der Rufer

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Zumeist ist er am Sonntag Morgen zu vernehmen, gegen Sieben, der Rufer, jener geheimnisvolle Mann, der in gewissen (in letzter Zeit kürzeren) Abständen Frühaufsteher wie mich in Verlegenheit zu bringen vermag. Mit seiner Stimme, die laut und klar, von oben, der Hauptstraße her, wiewohl unverständlich bleibt, was er mitzuteilen hat.

Man könnte denken, er rede den Leuten ins Gewissen, denen, die an der Hauptstraße wohnen, oder uns unten, im Villenviertel, all den Hausbesitzern, die sich der schmucken Gebäude und Grundstücke angenommen, nach dem Jahre Null, der Wende, da Viele mit der Zeitrechnung von vorn begannen ...

Es ist, als wollte er uns warnen, oder als hadere er mit sich und der Zeit und wollte zum Ausdruck bringen, was ihm auf den Nägeln brennt ... In der Stunde, in der das Gros der Erwachsenen noch pennt, das Partyvolk sich gerade auf dem Rückzug befindet, Wagen für Wagen raus aus der Stadt, die nun auf ein anderes Regiment überkommen ...

Dies ist im Übrigen der xste Versuch, die Gestalt des Rufers in den Granit eines Textes zu fassen, schon in den 80er Jahren laborierte ich daran, an anderer Stelle. Einmal notierte ich: "er steht im Fenster, läßt den Klagelaut einer Möwe vernehmen, sobald ich in die Gasse biege" - tatsächlich stand da immer einer im Fenster, und zwanghaft ging mein Blick hinauf ...

Gegen Sieben beginnt er also hier zu wüten, das geht nur einige Minuten lang, ehe er weiterzieht, die Hauptstraße stadtauswärts vermutlich - in unser Viertel ist er noch nicht vorgedrungen, bis gestern, da ich ihn zum ersten Male zu Gesicht bekam, meine Vorstellung von seiner Gestalt Bestätigung gefunden hat: hager, um die vierzig, bartloses Antlitz, bleich ...

Er kam den Weg vom Wald hoch, aus dem Prießnitzgrund, trug eine braune Nylonjacke, darunter ein blaukariertes Hemd. Und wieder diese Laute, artikuliert und unverständlich zugleich, als spräche er in Zungen, dabei hob er einmal die Hand, im Gestus der Empörung, lief weiter, unsere Straße hinauf Richtung Königsbrücker, und hinterließ nichts als eine Lache vergilbten Laubwerks auf dem Boden ...

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Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

jayne

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