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Lesart zu Wolfgang Hilbig: Die Einfriedung

Die Lektüre dieser Erzählung erwies sich für mich als schwierig, im Anfang, öfters verlor ich den Faden. Der 1979 geschriebene Text eröffnet mit einem Traumgesicht, ehe er die Empfindungswelt eines kurz vor der Entlassung stehenden Inhaftierten reflektiert (unsere Geschichte wie der kleine Presseteufel H. aus dem Hause Bild mir 2005 beharrlich telegraphierte, denken sie an unsere Geschichte, obgleich es meine, nicht die seinige war, er sie sich jedoch längst angeeignet hatte und mich nun zu verführen versuchte, meine Zustimmung zu erlangen, unsere Geschichte durch den Fleischwolf dieses Organs pressen zu lassen).

Der Text reflektiert Erfahrungen, die ich zu teilen in der Lage und die ihn mir klarer erscheinen lassen, zugänglicher, obwohl Bastionen unendlicher Wortreihungen dessen Kern bewachen, gleich Abwehrketten (Kettenhunde, die zu Kriegszeiten berüchtigte Feldpolizei), den Kern, das Innerste dieser Geschichte, die wir doch auf verschiedene Weise teilen – Auch ich hatte gesessen, anderthalb Monate, nicht lang, doch hinreichend, den Grund auszukosten, den Grund dieser Anstalten, oder ihn auszuleuchten, die Stadien von Verzweiflung (daß man in dieser Lage), des Gefühls, ausgeliefert zu sein, bis hin zur äußerlichen Anpassung, der Aneignung der dem Institut eigenen Sprache, und zu den Phantasien, die sich auf den Tag x beziehen, den Tag der Entlassung, ein Film, der sich tagtäglich immer wieder von neuem abspulte, nur leicht modifiziert, und der für einen in der U-Haft sicher etwas anders beschaffen als für eine Person, die schon rechtskräftig verurteilt, der das Strafmaß verkündet worden war …

Konnte man diesen auf Tag x bezogenen Film als Hoffnungszeichen interpretieren? Als Zeichen, daß man die Hoffnung noch nicht aufgegeben? Oder bildete er nicht eher das Signal dafür, daß man sich eingegliedert hatte, in das Regime, das parzellierte Heer der Insassen, angekommen war, man sich ihrer Sprache bediente, sich ihrer Gunst versichert hatte, ihrem Dunst, in dem das Draußen nur noch als Projektion zu erfahren, und nicht mehr als das, dessen man enteignet worden war? Was ich auf die innere Leinwand projizierte, war eine Fiktion, zusammengeschnitten aus bruchstückhaften Bildern, Erinnerungen an das, was ich zwei drei Jahre zuvor während meiner gelegentlichen Besuche von der Stadt wahrgenommen, in deren Anstalt ich nun einsaß – Wiederholt sah ich mich bei sonnigem Wetter aus dem Portal treten, auf die Freitreppe an der Schießgasse, sah mich die Stufen hinabrinnen, gleich einem fröhlichen Wasser, das keine Widerstände spürt, sie spielerisch überwindet, und so rann ich die Thälmannstraße entlang, im Schatten der Kolonnaden – doch nie steuerte ich einen der beiden Fernbahnhöfe an, um endlich nachhause zu gelangen, das zu jener Zeit noch das elterliche Heim. Nie, nimmer eine entsprechende Einstellung, Szene, und damals ist mir das nicht einmal aufgefallen: daß ich ohne Ziel, es für mich kein Ziel zu geben schien in dieser Stadt. Immer nur diese wenigen Straßen, wie ich sie nach dem Besuch des Albertinums zu passieren pflegte, nach Verlassen des Gebäudes mit der grau-schwarzen Sandsteinfassade –

Die Sprache der Bilder war eine andere und man also eingetaucht in den Grund dieser Institution, in der sich jegliche Zukunft jenseits des Tages x der Vorstellung entzog; war man in diesem Sinne verheert, daß es diese Zukunft, eine Vorstellung davon, die auch nach einer anderen Sprache verlangte, schlichtweg nicht geben konnte, sie nicht denkbar war, weil man der eigenen Sprache letztendlich benommen war, sich ihrer entschlagen hatte, um den Schmerz nicht länger spüren, ihn verraten zu müssen – vielleicht auch, weil die Entlassung eher einer Freisetzung gleichkommen würde, gleichkommen mußte …

Jayne-Ann Igel

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Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

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