Eine Lesart zu Wolfgang Hilbigs Kurzprosa Idyll und Bungalows
Das Morbide, das diese Erzählungen atmosphärisch prägt (in Idyll stößt der Ich-Erzähler auf eine halb zerfallene Mühle, erkundet die Räume, beginnt zu träumen; in der zweiten Erzählung zieht er sich zum Schreiben in einen leerstehenden Bungalow zurück, am Rande der Ortschaft), und das mich gleichermaßen angezogen wie abgestoßen hatte, der Ding-Welt verhaftet, weshalb ich diese Texte immer wieder lesen, mich immer von neuem hinein begeben mußte. Hinein in diese Wucherungen, Abgründe, in denen ich verloren zu gehen, mich dem Erzähler gleich zu vergessen drohte, und in denen ich aus der Welt herausgenommen war, weil die beschriebenen Orte als Unorte längst schon von der Erinnerung aufgezehrt, nicht einmal mehr erfahrbar waren. Örtlichkeiten, an der Peripherie von Siedlungen gelegen, im Range von Wüstungen oder der einen und anderen Wüsten Mark, wie sie zahlreich in dieser Gegend zu finden waren, den Braunkohlerevieren südlich und nordwestlich von Leipzig, und zumindest dafür sorgten, daß es Legenden gab, die diese Orte mit der Außenwelt zu verknüpfen vermochten. Legenden gleich Sicherungsleinen, damit sie nicht entgültig abdrifteten, in die Leere, in etwas, dem nicht einmal mehr ein Name eigen, das keine Bezeichnung verdiente, eine Existenz, die mit Worten nicht zu fassen ist, weil es dafür keine Worte gibt, für das Namenlose, und jeglicher Beschreibungsversuch scheitern müßte, und doch hat W.H. es vermocht, diesem Namenlosen einen Ort zu schaffen, der es ortbar machte ... Und uns erfahrbar, daß wir nichts als Tagelöhner sind, Tagelöhner der Poesie, der Wirklichkeit, die ein strenges Regiment führt, einem nichts schenkt, es sei denn in einem anderen Sinne ... und wir lediglich hineingeliehen, in diese Rolle ...
Jayne-Ann Igel
Die beiden Erzählungen sind erstmals in „Stimme Stimme“ erschienen, Reclam Verlag, Leipzig 1983. Neu editiert in W.H. Erzählungen. – Frankfurt/M.: S. Fischer Taschenbuch Verlag, 2002.
Kommentare 8
Liebe jayne, ein schöner Text, den ich erst mal nur als solchen gelesen habe, denn wie schon mal bemerkt, kenne ich kaum was von Hilbig, wie ich überhaupt von allem, was man kennen kann, nur Partikel kenne.
Aber zwei Begriffe haben meine Gedanken auf die Reise geschickt: 'Wüstung' und 'Tagelöhner'.
Die 'verschwundenen Orte', von denen dann nicht mal mehr ein Name bleibt, was ihr Verschwinden in Nichts vervollständigt, wie Du andeutest. Von den wüsten Orten des Mittelalters und der vorindustriellen Zeit sind meist nur Flurnamen, die oft auch nur noch Karthografen kennen, und Legenden, mit denen sich vielleicht noch Ethnologen befassen (ach, und Dichter natürlich, so sie ihre Sujets nicht nur aus urbanen Kontexten nehmen), übrig. Oder eben gar nichts, vermeintlich.
Hast Du schon mal archäologische Luftbilder gesehen? Ohne einen Spatenstich können Archäologen die Lage verschwundener Bauten und menschlich verursachter Erdbewegungen aus grauen Vorzeiten an im Pflanzenbewuchs oder der Bodenfärbung aus der Entfernung sichtbaren Strukturen erkennen. Oft gibt es auch gar nichts mehr zu ergraben, denn alles Holz u. dgl. ist längst verrottet. Ich finde faszinierend, dass etwas völlig ohne stoffliche Relikte nur noch in seinen Folgen, die als Spuren sichtbar sind, existiert.
Auch der Tagelöhner, einer, der dem Tage gibt, was des Tages ist, der keine Pläne hat, auf kein großes Ziel hinarbeitet, der sein und seiner Nächsten Leben fristet, der eines Tages samt seinem Namen verschwunden sein wird, hinterlässt Spuren.
upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/95/Barzan.jpg
Pardon, hat mit Hilbig wohl nicht viel zu tun...
"Oft gibt es auch gar nichts mehr zu ergraben, denn alles (Holz u. dgl.) ist längst verrottet.(Ich finde) faszinierend, dass etwas völlig ohne stoffliche Relikte nur noch in seinen Folgen, die als Spuren sichtbar sind, existiert."
das würde ich mal verwerten wollen, wenn du erlaubst :-)
vielen Dank, liebe Jayne, Deine werbenden Worte machen mich sehr neugierig, Hilbig zu lesen, Worte und Sätze als Erinnerungs- oder Sicherungsleinen in die namenlose Leere......
Verwertungsrechte hiermit erteilt.
lieber meisterfalk, was Du da über die verschwundenen orte schreibst, hat schon etwas mit hilbigs texten zu tun, im übertragenen sinne, und mich selbst faszinieren die zeugnisse archäologischer grabungen, die grabungsstätten selbst (in dresden gab es vor jahren eine ausstellung "die sächsische nacht" mit zeugnissen aus der bronzezeit aus der gegend, in der hilbig aufgewachsen ist und auch ich etliche lebensjahre verbracht habe) und ebenso diese luftaufnahmen ...
Liebe jayne,
ich find auch, dass es ein sehr schöner Text ist. Hat mir gut gefallen. "Verschwundene Orte" gibt es so viele . Orte der einstigen Freude und des einstigen Grauens. "Legenden die Orte nicht ins Leere abdriften lassen", gibt es auch viele. Ich halte sehr viel von der Erinnerung. Als Kind habe ich auf Bunkern aus der Zeit des zweiten Weltkrieges gespielt. Wenn ich heute daran vorbeigehe, sind sie zugewachsen und kaum noch als Bunker identfizierbar. Erhöhungen der Erde am Bahnhof, wo einst Leute drinsaßen und sich so sehr gefürchetet haben. Namenloser Schrecken, überall auf der Erde verteilt. Warum erinnern wir nur an so relativ wenige Dinge und fast nur an die Ärsche, die das Unheil angerichtet haben. Napoleon zog nach Rußland und wieviel Soldaten ließ er dort tod zurück? Aber all dies hat eigentlich auch nichts mit dem beworbenen Text von Hilbig zu tun, der mir als sehr stark erscheint. Große Schriftsteller hat sie hervorgebracht, die DDR. Danke, dass Du mich das gelehrt hast.
Herzlichen Gruß
por
@ jayne - Ich umschleiche diesen Ordner andauernd. Meine Hilbig-Annäherung kommt ja eher aus seinen späteren Werken "Ich" und absolut "Das Provisorium". Andererseits es ist mir vieles von seiner frühen Schreibweise sehr nahe. Er zwingt einen immer hinter seinen Worten her. Und manchmal erzeugt das einen Unwillen, weil man gar nicht in den Sog will von dem Kerl.
Und dann ist es - wie Du weißt - ja auch das Lokale
"Örtlichkeiten, an der Peripherie von Siedlungen gelegen, im Range von Wüstungen oder der einen und anderen Wüsten Mark, wie sie zahlreich in dieser Gegend zu finden waren, den Braunkohlerevieren südlich und nordwestlich von Leipzig.."
Da fällt mir noch ein frühes Gedicht von Elke Erb ein, von dem ich nur noch den Titel weiß und worum es ging.
"Das Flachland vor Leipzig". Es ist ja nordwestlich -dieses öde Gebiet, das man immer auf dem Weg nach Berlin durchfuhr. Bald fahre ich ja mal wieder hin. Und dann gucke ich aus dem Fenster und denke an Hilbig.
das flachland vor leipzig, auch genannt "leipziger tieflandsbucht", auf dem weg nach berlin, über bitterfeld ... dieses gedicht findet sich z.b. in der anthologie "hundert gedichte aus der ddr" (erschienen 2009) und wahrscheinlich auch in elke erbs gedichtband von 1978 "der faden der geduld" ...