Daß drei Wahlgänge vonnöten sein würden, um den neuen Bundespräsidenten küren zu können, hatte selbst Norbert Lammert nicht glauben wollen. So hatte der Bundestagspräsident vor der ersten Unterbrechung der Sitzung noch verkündet, für eine Fahrt ins Grüne an den Wannsee dürfte die Zeit heute wohl kaum reichen.
Als sich jedoch herausstellte, daß der Kandidat der Koalition die absolute Mehrheit verpaßt und auch Gauck nicht genügend Stimmen errungen hatte, kam das seit Anfang Juni ununterbrochen zelebrierte Schmierentheater um Gauck, Wulff und die vermeintliche Rückwärtsgewandtheit der Linken, die Gauck nicht mittragen mochte, noch einmal so richtig in Fahrt.
Vor allem diskreditierte man immer wieder fast kampagnenartig die Partei Die Linke. Da hieß es von den Moderatoren des ZdF und von Phoenix wie auch dem Gros der Interviewpartner aus den Reihen von CDU, FDP, Grünen und SPD unisono, sie habe die Chance nicht genutzt, entgültig mit ihrer SED-Vergangenheit zu brechen, sie wäre ihrer Verantwortung für die Zukunft des Landes nicht gerecht geworden und habe ihre politische Unzurechnungsfähigkeit einmal mehr unter Beweis gestellt.
Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ließ verlauten, das Abstimmungsverhalten der Linken sei ein "dramatischer Rückfall der Partei in ihre SED- und DDR-Vergangenheit" und er habe gedacht, die Partei sei schon weiter. Hubertus Heil äußerte, die Linke habe verpaßt, etwas für die Zukunft zu tun. Dabei gäbe es doch gemeinsame Inhalte ...
Woher dieses späte Erwachen, die Linke hatte immerhin die ganze Zeit über Inhalte gesprochen, z.B. in Bezug auf mögliche rotrotgrüne Koalitionen in Thüringen, Saarland und NRW, wo solch ein Zusammenwirken für die Zukunft auf Bundesebene viel ausschlaggebender gewesen wäre. Und sie hat auch über die Inhalte gesprochen, die es ihr unmöglich machten, Joachim Gauck zu wählen.
Medial wollte man uns bis in den späten Abend hinein glauben machen, eine absolute Mehrheit für Gauck wäre möglich gewesen, wenn die Linke mitgespielt hätte. Die Rechnung, die hier aufgemacht wird, entbehrt jedoch jeglicher politischen Logik.
Hätte sich die Linke im Vorhinein oder während der Wahl dazu bereit erklärt oder über das von ihr zu erwartendes Wahlverhalten gar Verschwiegenheit geübt, so hätte wohl im Gegenzug die schwarzgelbe Koalition ihre Wahlfrauen und -männer von Anfang an so weit zu disziplinieren gewußt, daß es eben auch im ersten Wahlgang nicht zum "Gau" gekommen wäre, rechnerisch verfügt RotRotGrün nunmal über keine Mehrheit.
Doch so konnte es sich die Klientel der Koalition erlauben, ein wenig mit ihrem Kandidaten zu spielen, ihm und der Kanzlerin einen kleinen Denkzettel zu verpassen. Wie sagte doch Westerwelle in der Pause nach dem ersten Wahlgang: Wir werden auch im zweiten Wahlgang Geschlossenheit zeigen und für Wulff stimmen ... Dabei konnte Gauck auch ohne die Stimmen der Linken 499 Stimmen auf sich vereinen - wo die wohl herkamen?
Hatte denn jemand im Ernst geglaubt, diese Koalition ließe sich über eine Bundespräsidentenwahl zerbrechen oder vorführen, selbst wenn es derzeit in der Regierung ordentlich "stinkt"? Soviel zur politischen Dynamik, die man einfach nicht wahrhaben wollte und will.
Also konnten wir eines der Stücke übelster Sorte verfolgen, das je auf der politischen Bühne hierzulande gelaufen ist. Man mochte sich an das Dschungelcamp erinnert fühlen, auch dort wird ja die Stimmung gern mittels Lancierung von Unterstellungen und Beleidigungen ordentlich angeheizt. Und im Nachhinein vermag sich so Mancher dann kaum noch in die Augen zu schauen, wenn ihm vorgeführt wird, wie er sich coram publico produziert hat ...
Was wir gestern vielmehr erleben mußten, war kein Wahltrauma (so einer der Kommentatoren), sondern ein Trauma der politischen Kultur und des unabhängigen Journalismus in diesem Lande.
Und es war ein Lehrstück in Sachen Demokratie, nämlich ein Lehrstück vom Niedergang des politischen Anstands und der Gepflogenheiten im Umgang mit dem politischen Gegner. Es ist aber auch ein Lehrstück vom Verfall eines unabhängigen und unvoreingenommenen Journalismus, wie er seitens der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten als Auftrag wahrgenommen werden müßte. Doch die Moderatorinnen und Moderatoren haben diesen Auftrag einmal mehr konterkariert und während der Liveübertragungen aus dem Bundestag eindeutig parteiisch agiert und argumentiert.
Nachtrag: Der DLF hat heute Mittag mit einer Reihe von Beiträgen zum gestrigen Geschehen aufgewartet, z.B. über die Lage der Koalition danach, zu den Reaktionen der Opposition, ein Interview mit dem Politologen Gerd Langguth und ein Interview mit Dietmar Bartsch zum Wahlverhalten der Linken. MDR-Figaro interviewte heute morgen Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler und Redakteur der Monatszeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik".
Kommentare 19
Ein gutes Resümee! Wichtig auch der Hinweis auf die Rolle der Medien!
ob's wirklich ein trauma (der politischen kultur) war - ich bezweifle das.
schmierentheater war's. bis in den souffleusen-kasten (die medien) hinein.
gut hätte ich's gefunden, wenn Lammert nach dem dritten wahlgang und vor verkündung des ergebnisses die versammlung unterbrochen hätte "meine frau wartet, das essen wird kalt und die medien werden auch heim wollen". dann hätten die moderatoren schön dumm aus der wäsche geguckt.
so gab's als krönenden abschluß die nationalhymne unter der satzbezeichnung 'eingeschlafene füsse'.
und wir haben nun einen bundeswulff mit evangelikalen neigungen ...
god save the queen!
"Hatte denn jemand im Ernst geglaubt, diese Koalition ließe sich über eine Bundespräsidentenwahl zerbrechen oder vorführen, selbst wenn es derzeit in der Regierung ordentlich "stinkt"? Soviel zur politischen Dynamik, die man einfach nicht wahrhaben wollte und will."
Nee, aber sie wollen es uns glauben machen. Die Linke muss Schuld sein, sie wollen es so.
Gruß
Magda
Wolfgang Lieb hat auf den NachDenkSeiten auch ein wunderbar stringentes Resümee eingestellt ...
ich hab das gestern live mitverfolgt, und das erschien mir schon traumatisch, da wurde ohne not viel politisches porcellan zerdeppert ...
Heute morgen gab es im mdr-figaro eine recht gute einschätzung gestriger vorgänge auch von dem politikwissenschaftler albrecht von lucke unter dem titel "wie entfremdet ist die republik".
erst haben die Gauck Crusader die Linkspartei als Braut nicht angeschaut, dann haben sie diese im letzten Moment ihrer selbstverschuldeten Not geschubst, in die besenkammer gedrängt, medial brüllend vorgeführt, dass die Linkspartei sich als Braut, angeblich nicht traut..
Dabei hat die Linkspartei als Braut das fiese Spiel durchschaut.
"Die meinen es nicht ernst, die wollen nur aleine Spass, in alle Richtungen schielend, nur ml so herum spielen.
So geht man nicht mit einer Braut um.
Das gehört sich einfach nicht.
Was sagt der olle Knigge dazu?
tschüss
JP
Sehr geehrte Jayne,
wer Sie liest, kann diesen Artikel nur als konsequent bezeichnen, die Position ist deutlich, aber vor allem unaufgeregt. Danke dafür. Mit der Einschätzung von Ränkespiele stehen Sie beileibe nicht allein da.
Liebe jayne,
danke für dieses zutreffende Fazit, dass Du aus dem Schmierentheater von gesterngezogen hast.
Man will die Linken vorführen, doch ich war gestrern sehr zufrieden, dass die Linke trotz all diesen Drucks nicht umgefallen ist und sich nicht auf einen Kandidaten Gauck eingelassen hat.
Das wäre wirklich ein verheerendes Signal für ihre Wähler gewesen.
Die sind in meiner Einschätzung viel intelligenter als es die SPD glauben mag und werden sicher zu ihrem überwältigenden Teil nicht auf diese billigen Tricks der SPD hereinfallen.
Ich war entsetzt über Äußerungen, wie etwa von Andrea Nahles. Das war ganz schlechtes Kasperle Theater. Der böse Räuber der Linken will sich nicht lossagen von seiner SED-Vergangenheit, 20 Jahre nach dem Mauerfall mit dem Einzug in 13 deutsche Länderparlamente. Lächerlich.
Ich meine nicht damit, dass das Leid der wirklichpolitisch Verfolgten inder DDR lächerlich war, aber die SPD hat nicht das Recht , die linken Wahklmänner zu Zwingen gegen ihre politischen Überzeugungen zu wählen.
Du hast dieses zumindest fragwürdige demokratische Verständnis dieser Herrschaften in herausragender Weise herausgearbeitet.
Das ist richtig gut!
Herzliche Grüße
rr
Danke, jayne und gut gesprochen, rr!
@hibou
Danke. ;)
@jayne
Sehr guter Text und schön zusammengefasst was uns da gestern geboten wurde. Was mich immer besonders an Deinen Analysen freut, ist der unaufgeregte und sachliche Ton. Muss man erst mal durchhalten.
hab ich gerade im Radio über Gauck aufgeschnappt: eine Art Spree-Obama sollte aufgebaut werden ...
OK, die mediale Auslegung der Wahlabstimmung "Der Linken" mag parteiisch gewesen sein, auch ein bisschen vom Wunschdenken nach einer "Action" ("hilft Die Linke doch, den Wulff CDU unter Druck zu setzen?"). Überraschend finde ich auch nicht einige "offizielle" Statements der Politiker, vor allem der SPD (Thierse, Nahles), die vor den Kameras sich wünschen oder enttäuscht wirken, dass DieLinke nicht das tut, was sie gerne hätten.
Dagegen habe ich die Theorie, dass es den Gauck-Unterstützern (SPD Grüne) von Anfang nur um eine strategische Schlacht ging, mit dieser Kandidatur sowohl die CDU, als auch Die Linken zu bedrängen (was auch, zumindest in der Öffentlichkeit, gelang). Es ist dagegen kaum davon auszugehen, dass SPD tatsächlich gerne hätten, wenn der Bundespräsident Gauck hiesse.
Also eigentlich "toll gemacht": Merkenl, Wulff co sind beschädigt, Die Linke gilt als "weiterhin SED-Befangen", und Gauck ist doch nicht Staastoberhaupt.
Es ist nur auf den ersten Blick zwischen SPD und Der Linken "Porzellan zerschlagen" - beide Seiten sind FROH, dass sie in ihren Rollen verblieben sind. Die SPD hat zwar Stärke gezeigt, kann "die Schuld" immer noch auf Die Linke abschieben. Die Linke kann genauso selbstbewusst behaupten, Gauck habe ihr zu wenig/zu spät angeboten, und dass ihre Parlamentarier ja frei waren. Insgeheim sind beide auch froh NOCH nicht miteinander zu müssen. Die BP-Wahl war vor allem ein Test: Wie KÖNNTEN mal beide (und, siehe da, die Öffentlichkeit hätte nichts gegen Rot-Grün-Rot!...), müssen es aber NOCH nicht tun (da viele unsere Wähler, Funktionäre und Gruppen nicht so weit sind...).
"Dagegen habe ich die Theorie, dass es den Gauck-Unterstützern (SPD Grüne) von Anfang nur um eine strategische Schlacht ging, mit dieser Kandidatur sowohl die CDU, als auch Die Linken zu bedrängen" - diese vorstellung erscheint auch mir sehr naheliegend, deshalb spreche ich ja auch eher von theater als einem wirklichen ringen um eine alternative, und vor allem hatte es zuvor bessere tests gegeben, in thüringen, saarland und nrw ...
Im bundestag bringen die fraktionen von spd, linke, grünen ja gelegentlich auch schon mal einen gemeinsamen antrag ein oder treffen absprachen, ein prozeß der z.b. auch im sächsischen landtag zu beobachten ist. Die öffentlichkeit (welche) hätte nichts gegen Rot-Grün-Rot? Naja, bis jetzt funktioniert leider noch das auseinanderdividieren des potentiellen linken lagers, oder es genügt eine warnung seitens des bürgerlichen lagers an spd und grüne: spielt nicht mit den schmuddelkindern ... Und im gleichen atemzug wird der linken ideologische verbohrtheit vorgeworfen ...
Ich möchte trotz aller Zustimmung zu diesem Artikel und einigen Kommentaren dennoch die frage stellen, was dabei herausgekommen wäre, hätte die Partei DieLinke ihre Kandidatin nach dem ersten Wahlgang zurückgezogen. Leider hat sie es nicht und hat sich dadurch auch ein bisschen vorführen lassen. Nun bin ich auch der Meinung, dass die meiden und einige aus den reihen der SPD und der grünen das ganze überstrapaziert haben.
Dennoch werfe ich der linken vor, und diesen Vorwurf muss sie sich gefallen lassen, mit der Aufrechterhaltung der Kandidatur Luc Jochimsens Mehrheitsbeschafferin für Wulff gewesen zu sein. nicht etwa wegen ihrer Sturheit; nein, sie haben durchaus Souveränität bewiesen - aber dennoch Dummheit walten lassen.
Nichts liegt mir ferner, als zu behaupten, sie hätten ein Signal an die grünen und die SPD senden sollen; es muss jedoch die frage erlaubt sein, ob nicht mit dem Rückzug der Kandidatur Luc Jochimsens ein Signal an die Abweichler aus Koalitionskreisen hätte gesendet werden können. Sicherlich ist hier das alte Lied im Spiel: ein Konsens zumindest zwischen CDU- und FDP-Anhängern, Entscheidungen der Partei DieLinke zu verhindern. was uns wiederum doch zur Realität zurückführt. (Vllt. wäre diese dann schon nach dem zweiten Wahlgang eingetroffen ... wer weiß.)
naja, das mit der dummheit war denn vllt. doch zuviel ...
@all: dank für eure aufmerksamkeit und anmerkungen ...
deiner nachbetrachtung dank, liebe jayne, aber auch eine späte anmerkung zum geschehen und deiner bewertung.
"Und es war ein Lehrstück in Sachen Demokratie, nämlich ein Lehrstück vom Niedergang des politischen Anstands und der Gepflogenheiten im Umgang mit dem politischen Gegner. Es ist aber auch ein Lehrstück vom Verfall eines unabhängigen und unvoreingenommenen Journalismus, ... "
wo du von "Niedergang" und "Verfall" sprichst, sehe ich nur perpetuierung und die fortsetzung des schmierentheaters und der ränkespiele, die im machtkampf überall und immerzu üblich sind.
also konstanz statt niedergang/verfall.
was die gepflogenheiten im umgang mit dem politischen gegner betrifft, gebe ich Dir recht, doch beim journalismus konnte ich den verfall relativ gut beobachten, zumindest als regelmäßige dlf-hörerin seit den 70ern und spätere spiegelleserin - beim spiegel begann es m.e. 1993/94 deutlich zu bröckeln, beim dlf etwas verzögert ... (nur zwei beispiele)
beim nationalradio hätte ich nichts anderes erwartet nach dem motto "the medium is the message".
bei den printern hats mir vor gut 10 jahren den bleibenden schock versetzt, liebe jayne, als die medienmeute in breiter front für den krieg gegen restjugoslawien hetzte; sogar der bis dahin von mir verehrte jürgen habermas war bereit, einen titeltext für den krieg zu schreiben. seitdem sind meine erwartungen an die medien gering bis nahe null.
die besitz- und verwaltungsstrukturen sind so.