Spiegelungen und Brüche

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Im Frühjahr ist Anne Dorns Roman "Spiegelungen" erschienen. Und wie in ihren letzten Arbeiten greift die Grand Dame der Literatur, die in diesem Jahr ihren 85. Geburtstag feiert, auch hier wieder ihr Generalthema der Trennungen, Verluste und des sich Wiederfindens auf, vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund eigener Lebenserfahrungen. Eine Thematik, die auch von ihrem frühen Wechsel von Ost- nach Westdeutschland und der Tatsache geprägt ist, daß Familienangehörige im Osten geblieben sind, die Autorin ihre Kontakte dorthin nie hat abreißen lassen.

Doch der Roman begegnet uns nicht als fortschreitende Erzählung eines Geschehens, vielmehr werden wir in ihm mit fünf unterschiedlich benannten Frauengestalten konfrontiert, denen je ein Kapitel gewidmet ist. Die Kapitel entfalten eigenständiges Kolorit, und so könnte man den Eindruck gewinnen, es handele sich im Eigentlichen um autarke Binnenerzählungen.

Indes fügt sich alles in einen größeren, auch autobiographisch konnotierten Zusammenhang, denn die Autorin läßt jede dieser Figuren in einer konkreten Lebenssituation episodenhaft hervortreten. Und so stellen die Kapitel schon eine gewisse chronologische Abfolge her, verkörpern die einzelnen Figuren eher Aspekte einer Person und machen deren biographische Brüche kenntlich, während sie selbst im Hintergrund bleibt.

Im Eingangskapitel Minza ist die Frau noch ein Kind. Ein Kind, das mit ihren Eltern im Dresden der frühen dreißiger Jahre lebt und nicht zu verstehen vermag, warum die Mutter während einer Dampferfahrt auf der Elbe plötzlich zusammenbricht. Unerklärlich bleibt ihm auch, was zwischen den Eltern abläuft. Oder warum einmal, sie sind zu einer Hochzeit eingeladen, der Saum des roten Kleids von Tante Dora unter der Trennwand zwischen den Toilettenzellen hervorlugt und seltsame Geräusche macht.


Schon in ihrem 1992 erschienenen Erzählband "Geschichten aus tausend und zwei Jahren" hatte Anne Dorn ihre Kindheit in Dresden reflektiert, doch im vorliegenden Roman geht es um Verstörungen ganz anderer Art als um jene, die dem zeitgeschichtlichen Kontext ihres Erwachsenwerdens geschuldet sind. Hier werden wir auch Zeugen der sexuellen Orientierungsversuche eines Mädchens, das mitten im Krieg zur Frau heranreift.

Als Lena begegnet uns die junge Frau in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die die Härte des von Not, Gewalt und Zerstörung geprägten Alltags zu spüren bekommt. Nicht zuletzt auf ihrer Fahrt in den Westteil dieses Landes, die mühselig und gefahrvoll ist. Sie findet in einer kleineren Stadt Zuflucht und einen Neuanfang. Lena entsinnt sich ihrer zeichnerischen Begabung, durchläuft eine Ausbildung am Theater, arbeitet als Kostümbildnerin ...

Hanna folgen wir in der Zeit des Wirtschaftswunders durch eine stetig sich verdüsternde Ehegeschichte, an deren Ende sie mit ihren drei Kindern den Mann verläßt. Sie muß nun allein für deren Unterhalt aufkommen, gemeinsam unternehmen sie eine Reise nach Italien, die sich ob des schmalen Familienbudgets recht abenteuerlich gestaltet, überqueren in ihrem Kleinwagen die Alpen ...

Judith findet in einer Großstadt am Rhein Arbeit und ihr entgültiges Zuhause, die Kinder sind schon etwas älter und bestimmen nicht mehr ausschließlich ihren Alltag. Und wieder ist auch ein zögerliches Anbahnen von Beziehungen zu beobachten ... Als Clara schließlich lebt sie in Ehe mit einem Mann, der sich als Alkoholiker entpuppt. Diese schwierige und doch liebevolle Beziehung zeitigt auch für sie gesundheitliche Konsequenzen, traumatisch gestaltet sich die Erfahrung ihres ersten Herzinfarkts.

Daß das letzte Kapitel den Namen MILEHAJUCLA trägt, bestätigt die eingangs gehegte Vermutung. Wir begegnen einer Frau im fortgeschrittenem Alter, die abgeklärt wirkt und trotzdem das Interesse am Leben nicht verloren hat. Das Wort MILEHAJUCLA mutet an wie ein rätselhaftes Epitaph, das über einem Türstock angebracht ist ...

Der Autorin gelingt mit diesem Zeugnis eines menschlichen Werdegangs, einer Selbstfindung, in der praktizierten literarischen Distanz zum eigenen "Ich", zum eigenen Leben, etwas Wunderbares. Und wir dürfen dabei gewiß sein, daß jedem Scheitern auch die Möglichkeit eines Neuanfangs innewohnt ...

Anne Dorn wurde in Wachau bei Dresden geboren, erlebte Kindheit und Jugend in Dresden, in einer Stadt, mit der sie noch heute viel verbindet, regelmäßig besucht sie Freunde und Bekannte. Unmittelbar nach Kriegsende siedelte sie allein nach Westdeutschland über, durchlief eine Ausbildung als Kostümbildnerin, war später für Rundfunk und Fernsehen tätig, drehte auch eigene Filme. Ende der 60er Jahre veröffentlichte sie erste literarische Arbeiten, seit 1969 lebt die Autorin in Köln. Die auch ihr selbst wichtigsten Bücher sollten jedoch erst ab Anfang der 90er Jahre in dichter Folge erscheinen, so z.B. "hüben und drüben", "Geschichten aus tausend und zwei Jahren" und zuletzt der Roman "Siehdichum" (2007).

Anne Dorn: Spiegelungen. Roman. Dittrich Verlag, Berlin 2010.

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Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

jayne

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