Stimmen aus der Fremde

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Vor dreißig Jahren entstand in Polen die unabhängige Gewerkschaft Solidarność, in einer Zeit, in der ich häufig nach Polen reiste, zumeist in Frühjahr und Herbst, mitten im Semester, für eine Woche oder länger. Ich besuchte Freunde und Bekannte in Lublin, trampte durch die Beskiden und bekam Einiges von diesem Aufbruch mit, der nach und nach die ganzen Gesellschaft erfaßte. Ich lernte Aktivistinnen und Aktivisten der Gewerkschaft kennen, und auch die Anhänger anderer Reformbestrebungen, etwa des katholischen Neokatechumenats.

Seit Verhängung des Ausnahmezustandes über Polen im Dezember 1981 bin ich nicht wieder dort gewesen, was verschiedene Gründe hat. Anfangs ließen mich die DDR-Behörden nicht reisen, obgleich man auf Einladung fahren durfte. Später brach der Kontakt zu den Freunden ab. Doch sollten dieses Land und seine Kultur mich nicht mehr loslassen, das mir auch über die Literatur nähergerückt war, näher als ich zunächst glaubte ...

So war ich über Czeslaw Niemens Vertonungen der Gedichte polnischer Autoren (Lesmian, Iwaskiewicz, Pawlikowska-Jasnorzewska, Norwid) auf die Literatur der Emigranten gestoßen. Und zuerst schien mir, als ob die polnische Literatur vor allem eine des Exils sei, der Stimmen aus einem Jenseits, die eine Geschichte erzählten, die ihres Raumes enthoben worden war. Insbesondere hatten mich die Verse Cyprian Norwids magisch angezogen, ihre Distanziertheit, Kühle (Marmor Bialy ..., Pielgrzym).

Ich hatte Worte vernommen, die mir vertraut erschienen, auf Zeichen gestarrt, deren Aussprache ich mir nicht einmal vorzustellen vermochte. Ich empfand, daß die Stimmen aus der Fremde von unserer eigenen Fremdheit in einem Land, einer Wirklichkeit sprachen, auf die Einfluß zu nehmen wir schon verwirkt zu haben schienen, unter der wir litten und doch aufwachsen sollten.

Norwid schrieb aus Paris oder London: Ihr meint, daß auch ich kein Herr sei,/ Weil meine fahrbare Behausung aus des Kameles Leder ... [...] Besitz ich doch auch - der Erde soviel,/ Als meine Sohle bedecket,/ Wohin ich auch gehe ... (Pielgrzym). Trost und Trotz sind diesen Zeilen gleichermaßen immanent, die Möglichkeit, in einem anderen Sinne beheimatet zu sein.

Die Emigranten dünkten mir Schatten, von denen man im ersten Augenblick nicht weiß, von wo sie herkommen, von welchen Gegenständen sie Kunde geben, oder ob sie überhaupt eines solchen eignen. Mir schien es rätselhaft, wie ein Land, das nach der dritten Teilung faktisch aufgehört hatte, zu existieren, auf der Grundlage eines Mythos, einer Legende (Wernyhora) weiterzuleben, ein geistiges Polentum zu konstituieren vermochte, ein Gemisch aus Patriotismus, Religiosität, Mythos und Weltbürgerschaft, dessen Grundlage allein die Sprache, die Kultur, eine Utopie bilden konnten.

Nach dem Scheitern des Aufstands in Warschau 1830 war das Gros der polnischen Literaten emigriert, ohne ihre Trauer, ihre Vision eines wiederhergestellten und demokratisierten Vaterlands aufzugeben oder zu verlieren. Sie sprachen aus der Fremde in die Wirklichkeit des Landes hinein, wurden gelesen, gehört ...

Ich begriff, daß die Erfahrung des Heimatlosen, des Emigranten, die Erfahrung einer geistigen Heimat Lebenshilfe zu sein vermochte. Andernseits fühlte ich mich, in Unkenntnis der Vorgeschichte, verunsichert von der offensichtlichen Irrationalität, die jenes Polentum prägte, bis in die Gegenwart hinein. Irritiert auch von einem Messianismus, der in die Überhöhung der nationalen Vision mündete, ihr zu einer Allgemeingültigkeit verhalf, der ich mich nicht zu entziehen vermochte.

Man schien in Polen immer bereit gewesen, unterzutauchen, in den Untergrund zu gehen, in Erwartung einer Besetzung, eines Staatsstreichs - ich erlebte das Land 1980/81 in vergleichbarer Lage und war erstaunt ob des Galgenhumors, der Euphorie, die sich der Freunde, die die Gewerkschaftsbewegung unterstützten, bemächtigt hatten, und ob des selbstironischen Untertons, in dem sie mir en detail erklärten, was sie zu tun gedächten, so die Russen die Stadt einnehmen sollten ...

Die Vorkehrungen schienen bereits getroffen, und ich hatte den Eindruck, man harrte bei aller Gelassenheit in den Alltagsgeschäften mit einer gewissen Spannung des Kommenden. An den Häuserwänden war des öfteren Nie spij! zu lesen - Schlaf nicht!

[Fortsetzung Inhalt 2. Teil: Die DDR und ihre Emigranten]

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Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

jayne

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