Wenn der Erlöser naht ... Eine Presseschau

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Der Medienrummel um Joachim Gauck und seine Kandidatur fürs höchste Staatsamt treibt Blüten besonderer Art - die Financial Times Deutschland titelte gestern beispielsweise: "Der mit dem Wulff tanzt", die FAZ machte einen ihrer Sympathie-Artikel mit "Der Selbstdenker aus Rostock auf", ein anderer verheißt "Es ist Sonne über Berlin". Die Frankfurter Rundschau bezeichnet ihn als den perfekten Kandidaten. Und der Spiegel spricht von einem "Duell um Bellevue" ...

Selbst im öffentlich-rechtlichen Rundfunk hält man fleißig Hof für Gauck, läßt im DLF zur Mittagsstunde gleich mal zwei Vertreter des Erzkonservatismus zu Wort kommen, den Ex-Bürgerrechtler und Schriftsteller Lutz Rathenow, und aus Sachsen den unvermeidlichen und engstens mit der CDU verbandelten Politikwissenschaftler Werner Patzelt.

Die Freude, die Kanzlerin durch Unterstützung dieser Gegenkandidatur demontieren zu können, scheint groß. Allerdings vermag man sich kaum des Eindrucks zu erwehren, die Leitmedien wollten zwar einen anderen Kanzler, aber keine andere Politik. Wie auch, der Erwählte ist doch selbst ein Verfechter neoliberaler Glaubenssätze und Befürworter des Rückzugs des Staats aus seiner sozialen Verantwortung.

In etlichen Gazetten ist zu lesen, die Netzgemeinde stehe hinter Gauck, laut jüngsten forsa-Umfragen finde hier ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Wulff und Gauck statt, nur daß ersterer inzwischen im medialen Schatten kaum noch auszumachen ist. Selbst Initiativen Hartz IV-Betroffener, Gewerkschafter und andere Leute, von denen man klares politisches Denken gewohnt ist, erliegen diesem Hype und machen sich für Gauck stark - sie hoffen auf das vorzeitige Ende der schwarz-gelben Koalition. In etlichen Kommentarsträngen findet sich tatsächlich viel Zustimmung, verknüpft mit immer derselben Argumentation. Auf privaten Blogs wie etwa pottblog wird offen für die Einrichtung von Unterstützungsseiten, sogen. Gauckecken geworben.

Das Ganze nimmt indes schon Formen einer Kampagne an und wird als Wechselstimmung verkauft, ein User meinte z.B., SPD und Grüne hätten sich grundsätzlich geändert, wären nicht mehr jene, die in den Jahren 1998 bis 2002 die Koalitionsregierung gebildet hatten. Aber vor dem Hintergrund dessen, wen sie nun auf ihr Schild gehoben haben und wie sie die Chance für eine rotrotgrüne Koalition, die es im letzten wie in diesem Jahr in einzelnen Bundesländern gegeben hat, verpuffen ließen, ist keine wesentliche Änderung auszumachen. Auch in der Frage des Verhältnisses zur Linken lassen sich beide Parteien weiterhin von den sogen. Bürgerlichen vor sich her treiben und besorgen noch selbst deren Ausgrenzungsgeschäft.

Der mediale Hype scheint größer als der zur Fußball-WM 2006, und für die kommende scheint sich im Augenblick gar niemand zu interessieren. Diesem Hype eignet schon eine religiöse Dimension, und Gauck kommt als Erlöser zu uns und macht alles wieder gut ...

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Geschrieben von

jayne

beobachterin des (medien-) alltags

jayne

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